Pyrenäen 2019


Schon vor zwei Jahren hatte ich mich dafür interessiert, die Pyrenäen zu überqueren. Besonders reizte mich die Tatsache, dass dieses Gebirge weitaus weniger erschlossen ist als etwa die Alpen. Dann jedoch kam ich aufgrund anderer Projekte von diesem Vorhaben ab. Stattdessen durchquerte ich Andalusien und reiste in Slowenien sowie den französischen Vogesen. Nachdem ich dann 2018 im Himalaya sowie Norwegen gewesen war und einmal mehr die Alpen überquert hatte, rückte mein Blick auf die Karpaten und einmal mehr auf die Pyrenäen, welche ich nun im Sommer 2019 in einem kleinen Zeitfenster von wenigen Tagen überqueren zu können hoffte. Über Wochen hinweg beobachtete ich via Webcams die Schneelage, die sich jetzt ab Juni deutlich besserte. Meine Idee war, die Pyrenäen ab Lourdes durch das Valle de Marcadou und über den Col de la Fache (2664 m) hinunter nach Spanien zu überqueren, mit Zielort Sabiñanigo.

Nachdem ich wie immer die Route am Computer erstellt und alles vorbereitet hatte, reiste ich am 28. Juni 2019 um kurz nach 21:00 Uhr abends ab. Die Anfahrt nach Lourdes dauerte inklusive einer kurzen Schlafpause etwa 14 Stunden und so kam ich ein wenig später als geplant am  Startpunkt an. Hier schockten mich zunächst die hohe Temperatur und Luftfeuchtigkeit. In den Wochen zuvor hatte es in dieser Region aber sehr intensiv geregnet und so war ich froh, dass nun für zwei Tage Sonne und danach noch für einen weiteren Tag nur leichte Bewölkung vorhergesagt war. Leider plagte mich auch ein latenter Durchfall. Dies in Kombination mit der extremen Temperatur von 40 Grad am Mittag, der Luftfeuchtigkeit sowie meinem wie üblich sehr schweren Gepäck sollte mich bereits am ersten Tag meine Zeitplanung überdenken lassen. Apropos Gepäck: Diesmal reiste ich zum ersten Mal mit drei Kameras, meiner üblichen Kompaktkamera, einer Zoomkamera für Tiere und einer Systemkamera mit Superweitwinkelobjektiv. Mein Ziel für den ersten Tag war eine der beiden Hütten im Nationalpark, entweder das Refuge du Clot auf 1522 m oder das Refuge Wallon auf 1868 m. Zunächst führte mich die Strecke über den Fahrradweg hinaus aus Lourdes durch das Tal, immer am Fluss vorbei. Meine Reifen klebten am Boden, es war drückend heiß und schon nach wenigen Kilometern musste ich erschöpft am Straßenrand anhalten. Mein Kopf fühlte sich an, als ob er jeden Moment platzen würde, mein Herz schlug zu rasch, ich stand kurz vor einem Hitzschlag, den ich aber durch die offenbar noch so gerade rechtzeitige Pause abwenden konnte. Aber nun verstand ich, dass ein Erreichen einer der beiden Hütten heute utopisch war. Ich kämpfte mich bis zu einem Imbissstand vor, wo ich dringend noch mehr trinken musste und plante um. Cauterets sollte das heutige Tagesziel werden. Wenn ich am zweiten Tag die obere Hütte erreichen könnte, so würde ich am dritten Tag vielleicht noch rechtzeitig vor schlechtem Wetter den Pass überqueren können. Über Stunden ging es aber nun nach oben. Ich selbst und mein Rucksack waren mit so vielen Getränken bepackt, wie er und ich selbst noch irgendwie tragen konnten und so erklomm ich mit viel Geduld bis zum  Abend die Strecke bis nach Cauterets auf etwa 1000 m.

Als ich am zweiten Tag aufbrach, teilte mir ein Bediensteter des Hotels mit, dass ich im Nationalpark vermutlich nicht radfahren dürfe. Er meinte, ich müsse mal schauen, ob zumindest Schieben erlaubt sei. Dies war ein Schock, immerhin hatte ich nicht nur bereits hunderte Euro an Sprit und Maut bezahlt, sondern doch daheim besonders darauf geachtet, nur Wege in meine Strecke mitaufzunehmen, die in der Software ausdrücklich NICHT als für Fahrräder gesperrt klassifiziert waren. So stand bis auf Weiteres ein Aufstieg unter Ungewissheit an. Bei abermals hohen Temperaturen ging es zunächst etwa 500 Höhenmeter über eine steile Serpentinenstraße empor. Rennradfahrer, die mir begegneten schauten recht gleichwohl amüsiert und überrascht, dass da jemand mit solchem Gepäck und einem Mountainbike hoch wollte. Als ich am Pont d'Espagne, dem Zugang zum Nationalpark, ankam und durchquerte, stellte ich mein Rad demonstrativ an den Infoservive und fragte die Dame, ob ich in irgendeiner Form Eintritt bezahlen müsse. Dabei trug ich meinen Fahrradhelm, meine Radhandschuhe sowie mein MTB-Shirt. Man musste mich unmittelbar als Radfahrer erkennen. Aber weder sie noch der Angestellte des direkt danebenliegenden Seilbahndienstes, mit welchem ich auch redete, hatten etwas gegen mein Rad einzuwenden und so begann ich, damit ich damit, mein Rad vorsichtig voranzuschieben. Ein Schild mit einem durchgestrichenen Fahrrad deutete ich als "nicht fahren". Ich beschloss, wenigstens zur ersten Hütte zu schieben und mal zu schauen, ob jemand etwas gegen mein Rad einzuwenden hätte. Der Hüttenwirt dort sagte mir, dass Räder nicht erlaubt seien, er sich aber vorstellen könne, dass niemand etwas dagegen haben könne, wenn ich es denn nur schieben oder tragen würde. Da dieser Meinung auch schon der Hotelangestellte am Morgen gewesen war, hoffte ich, dass ich nicht allzu viel falsch machen könne, wenn ich freundlich lächelnd das Bike durch den Nationalpark schieben würde. Über die nächsten Stunden ging es so in aller Ruhe, wenngleich sportlich zehrend,  immer voran. Der Untergrund wurde zunehmend grober, bis er schließlich in schweres Geröll überging, so dass das Rad meistens nur noch getragen oder gestoßen werden konnte. Ich traf dutzende Wanderer. Alle lächelten mich an oder fragten gar, was ich Verrücktes vorhätte. Sie wünschten mir Glück, denn so etwas hätten sie hier noch nicht gesehen. Auf etwa 1700 m traf ich jedoch dann eine Frau, die sich massiv über mein Fahrrad aufregte und mich aggressiv auszufragen versuchte. Auf meine Erklärungen hin, dass man mir zum einen gesagt hätte, dass Schieben wohl in Ordnung ginge, ich zum anderen aber vor allem nichts für die Fehlklassifizierung in Fahrradsoftware könne und außerdem am Eingang von allen gesehen und nicht aufgehalten worden wäre, ging sie in keiner Weise ein. Ihr war es nun wichtig, mir deutlich gestikulierend klar zu machen, dass sie mich unten melden würde. Nun kam in mir unweigerlich eine Missstimmung auf, denn das machte mir Druck. Eine Stunde später kam ich am Refuge de Wallon auf 1868 m an. Die Gäste schauten verdutzt und der Hüttenwirt, dem ich im Übrigen bereits einen Monat vorher von meinem Unternehmen berichtet hatte und mich ebenfalls nicht auf ein Fahrradverbot hingewiesen hatte, sagte nun, dass es am besten sei, wenn ich mein Bike samt des Helms und meines Shirts erstmal hinter der Hütte verstecken würde, da in Kürze ein Ranger vorbeikommen werde. So schleppte ich mein Rad 100 m einen Hügel hinauf, wo ich es hinter einem Busch im hohen Gras versteckte. Auch meinen Helm ließ ich dort, mir etwas um einen eventuellen Zeckenbefall am nächsten Morgen sorgend. Nun aß ich mit anderen Gästen zu Abend. Mittlerweile war ich das Gesprächsthema Nummer eins im Haus. Einer der Inhaber bestätigte nochmal, dass ich der Erste sei, der jemals mit einem Rad dort vorbeigekommen wäre. Er meinte, zwischen dieser letzten Hütte und dem Pass sollte ich wohl eher nicht mehr auf Ranger treffen. Sein Kollege jedoch hatte Spaß daran, mir Druck zu machen und widersprach seinem Kumpel. Man hätte doch nun die neuen Herden da oben auf den Wiesen. Es sei sehr gut möglich, dass dort patrouilliert werde. Einer der Wanderer, ein Franzose mit guten Englischkenntnissen, riet mir mit Nachdruck davon ab, dort hinauf zu gehen. An einem anderen Pass in der Gegend gäbe es noch steile Schneefelder und ohne seine Steigeisen wären sie dort verloren gewesen. Er betonte, dass ich dies absolut vergessen könne. Zwei deutsche Wanderer hingegen schauten zu zwei Gipfeln hinüber und schlussfolgerten: "Sieh' mal dort drüben. Die beiden dürften höher sein als der Pass und dort liegt kein Schnee. Und falls doch, ist es weich." Mit all diesen widersprüchlichen Meinungen ging ich zu Bett. Ich tat für viele Stunden kein Auge zu. Was würde ich nun tun? Der Hüttenwirt hatte mir noch angeboten, dass er mein Rad am kommenden Tag verstecken würde und ich ohne Bike hinaufsteigen, Fotos und Videos machen und wieder hinab kommen könne. Dann, so seine Idee, könne ich wieder rückwärts aus dem Park wandern bzw. weiter unten fahren, möglichst in der Dämmerung dann durch das stets geöffnete Gate. Dies klang nicht schlecht, aber dennoch zu abenteuerlich, konnte ich doch jetzt nicht mehr wissen, ob ich weiter unten gesucht würde oder nicht. Was, wenn man mich doch erwischen würde? Wie hoch wäre die Geldstrafe? Müsste ich meine SD-Karten löschen? Eine andere Möglichkeit war, das Rad wie geplant mitzuschleppen. Denn es wäre nun egal, wo man mich erwischen würde, weiter oben oder unten. Wenn ich den Pass dann doch erreichen könnte und kein Rad dabei hätte, wäre ich enttäuscht, eine Weiterfahrt hinein nach Spanien unmöglich. Vielleicht aber auch, so die dritte Option, würde man mich noch beim Abendessen oder am frühen Morgen ausfindig machen und fassen.

Am kommenden Morgen stand ich sehr früh auf. Ich hatte mich dazu entschlossen, die Königsversion zu versuchen, also das Rad mit mir zu führen. Für den Fall, dass ich erwischt würde und man mich vielleicht dazu auffordern könnte, meine Fotos zu löschen, tauschte ich die Speicherkarten der Kameras aus und packte die bereits stärker bespielte mit der heute weniger nutzbaren Kamera ganz nach unten in den Rucksack. Um 8:15 Uhr war ich auf dem Weg. Wie in Norwegen 2018 war nun kein einziger Meter fahrbar. Auch das Schieben war nur punktuell möglich. Nun hieß es für 800 Höhenmeter und geschätzte sechs bis sieben Stunden Tragen, Stoßen und Schieben. Ich war voll beladen mit Wasserreserven, auch in der Hand führte ich eine 1,5 L-Flasche mit. Das Wetter war sonnig und klar, perfekt. Der Weg wurde schnell extrem steil und war mit Geröll aller Größen bedeckt. Oft ging es am steilen Abhang vorbei. Absolute Trittsicherheit war unumgänglich. Ich kämpfte mich langsam höher. 2000 m, 2100... Und trotzdem war es noch so weit. 2664, das schien mir fast unerreichbar. Und wer weiß, was ich getan hätte, wenn ich nicht schon den Thorong La-Pass auf 5416 m im Himalaya während es Winters oder harmlosere Pässe in den Alpen tragend überquert hätte. Vielleicht hätte ich aufgegeben. Ich merkte aber schon jetzt, dass dieser Tag eine Ausnahme darstellen würde. Nie zuvor musste ich soviele Höhenmeter über steiles Geröll bergauf, nie zuvor das Ganze gehetzt vom Gesetz durchführen. Ich musste mich dazu zwingen, sehr langsam zu gehen, mein Kopf aber wollte viel schneller vorankommen. Auf 2300 m angekommen fühlte ich mich für einige Zeit etwas besser. Mehr als die Hälfte war geschafft. Es war Mittag. ich füllte meine Flasche regelmäßig mit Gletscherwasser und schritt stetig voran.

Dann zeigte mein Navigationsgerät Eis für den nächsten Kilometer bis zum Pass an. Nun musste ich zunächst aber eine steilere Wand überqueren. Diese beinhaltete ein steil abfallendes Schneefeld, das ich beschloss, über Geröll zu umsteigen. Wie sich herausstellen sollte, war das Geröll an dieser Stelle aber fast zu steil und vor allem lose. Dazwischen: Unmengen an rutschigem Staub. Nun musste ich einige Meter über Schnee, um an das Geröll gelangen zu können. Ich machte einen Schritt, dann in zweiten... Ich brach ein! Mein Bein steckte bis über das Knie im Schnee. Ich bekam Angst. Mein Rad hatte ich etwas weiter oberhalb meines Kopfes im Schnee und zwischen Steinen verhakt. Ich hing für einige Sekunden im Hang und musste an den Pass in Nepal zurückdenken, wo ich auch des Morgens um 5:00 genauso nach vorne gebeugt, mich an meinem Rad festklammernd an einem total vereisten Abhang kauerte. Ich musste mich dazu durchringen, weiterzusteigen. Mein Herz klopfte. Nun musste der Schritt sitzen. Und er tat es! Ich kam unter starkem Hochpressen meines Rads einen halben Meter höher. Ich musste es jetzt ein paar Male Stückchen für Stückchen werfen, um es soweit über meinen Kopf zu bekommen, dass ich mich wieder gut nach oben ziehen konnte. Irgendwann hatte ich diese Schockstelle überwunden. Ich ging weiter, bereits fühlend, dass dies nicht alles gewesen sein könne. Was meine Augen sahen, löste in mir totale Enttäuschung aus. Ein riesiges Schneefeld tat sich nun vor mir auf. Es ging steil genug bergan, um absolute Lebensgefahr bedeuten zu müssen. In der Mitte des Schneefelds ragte ein hohes Feld aus Felsen empor. Dieses reichte bis fast nach oben zum Pass, der jetzt erahnt werden konnte. Ich entschied mich dazu, einmal über das Geröll zu steigen, würde es auch all meine Zeit und Kraft kosten. Nun musste ich über meterhohe Brocken hinauf. Im 45-Grad-Winkel fast 40 Kilogramm zu tragen und zu wuchten, lassen einen sehr an die Zerbrechlichkeit des Menschseins denken. Man spürt, wie klein man hier oben ist und wie unnachgiebig die Natur ist, wenn man nur einen Fehler macht. Das Geröllfeld brachte mich zur totalen Verausgabung. Meine Geschwindigkeitsanzeige rastete zwischen 0 und 0,5 km/h. Zur Rechten sah ich einmal pro halber Stunde einen Wanderer entlanggehen. Mancher schrie zu mir herüber und winkte mir von dem Unterfangen ab. Zuvor hatte ich jemanden getroffen, der trotz seiner Steigeisen schwer gestürzt war. Sein Kopf war an verschiedenen Stellen aufgeschlagen und stark blutig gewesen. Ich war ohne Steigeisen unterwegs.

Nach etwa anderthalb Stunden hatte ich dieses Geröllfeld überquert. Aber nun, zu meiner weiteren Enttäuschung, musste ich feststellen, dass es sich nicht bis zum Pass durchzog, sondern ich bis zum nächsten Geröllfeld etwa 30 m über Schnee zurückzulegen hatte. Ich musste es versuchen; es gab keinen anderen Weg. Einen vorsichtigen Schritt machte ich. Der Schnee trug mich. Ich zog das andere Bein nach, mit Erfolg. Ich ging einige Schritte, dann brach ich erneut ein. Nun stand ich aber schon mitten im Schneefeld. Stille. Nur Wind. Und mein Atem. Herzklopfen. Ich zog mein Bein heraus und ging weiter. Nun versuchte ich, auf dem eher schmutzigen Schnee zu laufen. Dieser schien mir fester und unbenutzt. Dies ging deutlich besser. Ich bemerkte auch, dass die Schneedecke vor allem über dem Bach fragil war. Ich schaffte es zum nächsten Geröllfeld. Wie in einem Computerspiel huschte ich die nächste halbe Stunde von Geröll zu Geröll, immer ein weiteres Schneefeld vorsichtig querend, ab und zu einbrechend. Die Sonne brannte nun. Die Lippen waren aufgeplatzt. Ich aß Schnee. Gegen 15 Uhr erreichte ich das, was mir alle ausgeredet hatten: Den Pass. Den Col de la Fache. Als erster Mensch mit Rad überquerte ich hier die Pyrenäen von Frankreich nach Spanien. Ich machte Fotos und Videos und begann dann den Abstieg, der sich als mindestens genauso riskant wie der Aufstieg herausstellen sollte.

Auf dieser Seite des Passes fiel sofort der rutschige Untergrund auf. Schutt und Staub gemischt mit zahlreichen kleinen Rinnsalen, machten den eklatant steilen Abstieg zu einem hohen Risiko. Nach wenigen Minuten bereits stand ich vor meiner nächsten harten Prüfung: Der Blick hinab auf einen Eissee umgeben von steil abfallenden Schneefeldern. Würde ich dort stürzen, würde ich unweigerlich im Eiswasser landen und vermutlich kaum noch dort hinauskommen. Hier hatte ich es nun mit unterschiedlichen Schneeschichten zu tun. Manche waren sehr aufgeweicht, an anderen Stellen war der Schnee noch fester. Sorgen machte mir vor allem mein Hinterrad, das bei jedem Schritt schussartig nach unten wegrutschte und dass es dauerhaft anzuheben galt. Dafür konnte ich dann aber nicht so gefühlvoll schreiten. Es war ein Balanceakt. Über viele weitere Stunden sollte ich nun solche Schneefelder kreuzen. Gegen 19 Uhr kam ich dann an einen reißenden Gebirgsbach. Hier schien es keine Möglichkeit des Überquerens zu geben. Zu tief und druckvoll war das Wasser. Ein erster Versuch, einen Fuß langsam in das Wasser absinken zu lassen, scheiterte. Der Strom drohte, mir die Beine auf den algenbewachsenen Steinen wegzuziehen. Aber ich musste dort hinüber. Ein Umkehren war unmöglich. Ich musste nun in den sauren Apfel beißen und irgendwo bis zu den Knien in das Wasser steigen, darauf hoffend, Halt zu finden und vorsichtig zur anderen Seite zu gelangen. Hier durfte es keinen Fehler geben. Und ich sollte auch hier Glück haben! Mit komplett nassen Schuhen und Strümpfen erreichte ich die andere Seite und führte meine Wanderung in Richtung der nächsten Hütte weiter. Die Blasen, die sich bereits am Vortag  gebildet hatten, hatte ich mit Pflastern abgedeckt. Jetzt war mir sowieso alles egal. Ich war am Ende. Ich wusste, dass ich diese Nacht vermutlich im Berg verbringen müsse. Gottseidank hatte ich genug Wasser dabei. Ich marschierte weiter. Ich torkelte vielmehr. Nun tat sich eine Ebene mit einem See auf. Ich sah einen Staudamm. Mit meinem Zoomobjektiv schaute ich mir den Bau an, um zu prüfen, wo der Weg entlangführen würde und ob Menschen zu sehen wären. Ich erreichte mühsam und mittlerweile wimmernd den Damm. ich musste eine Spalte im Beton überspringen, um auf dem Wanderweg weiterkommen zu können. Hier musste die Hütte doch irgendwo sein. Dann sah ich einen ausgeschilderten Pfad. Sollte dieser zum Refugio de Respomuso (2200 m) führen? Ich traf einen Wanderer, der mir sagte, dass dies der richtige Weg sei und es nur zehn Minuten bis zur Hütte wären. Die Erfahrung der letzten Jahre hatte mich gelehrt, dass diese zehn Minuten eher 60 sein würden, und so war es auch. Für eine weitere Stunden kämpfte ich mich komplett verblockte Wandersteige entlang, bis ich gegen 21 Uhr und kurz vor Sonnenuntergang das Refugio erreichte. Ich taumelte mit schmerzenden Füßen, vollkommen verausgabt und mit blutigen Lippen den Hang hinunter. Dutzende Menschen schauten ungläubig zu mir hinüber, mancher klatschte. An diesem Abend schlief ich nach einer Dusche und energiereichem Essen auf der Terrasse des Refugios. Ich wickelte mich in meinen Schlafsack ein und legte mich auf den Betonboden, von wo aus ich auf den See, die Gebirgskette und die Sterne schauen konnte.

Am letzten Tag meiner Reise sollte es gemütlich den Berg hinab gehen. Jedoch, und es war zu erwarten, vergingen nochmal etwa fünf Stunden, bis ich eine Stelle erreichen konnte, die im weitesten Sinne fahrbar war. Bis dahin gab es nur steilste Geröllpfade und zahlreiche Steinschlagfelder zu queren. Die Vegetation wechselte mehrfach, von fast hochalpinem Gelände über eine eher subtropisch geprägte Zone hin zu einem mich an die Eifel erinnernden Abschnitt. Auf 1400 m etwa war es dann möglich, dauerhaft zu rollen. Ich fuhr mit einem Hochgefühl hinab zu einem Café, wo ich mich grundversorgte. Anschließend schoss ich ins Tal nach Sallent de Gallego. Hier erwartete mich ein Wetter wie am ersten Tag: Brutal heiß und ebenso feucht. Ich musste pausieren. Hier gab es auch leider keine Zug- oder Busverbindung zurück nach Lourdes. Also musste ich fast 40 km weiterfahren bis nach Sabiñanigo. Aber auch das Extremwetter konnte mich jetzt nicht mehr aufhalten. Ich kam gegen 18 Uhr in Sabiñanigo an und organisierte mit der Tourismuszentrale meine individuelle Rückreise.

Vier Tage - 114 km. Davon etwa 80 fahrend. Der Rest und in der Summe? Die mit Abstand grenzwertigste Reise, die ich bisher erlebt habe. Ich möchte an dieser Stelle dazu raten, mir in keiner Weise diese Route nachzumachen, zum einen weil sie auf französischer Seite verboten ist und es reicht, wenn einer sich von falscher Software dazu verleiten lässt, es mit einem Rad zu wagen, zum anderen weil das Ausmaß der Lebensgefahr an diesem Pass einfach zu hoch ist und es sogar ohne Rad schon etwas für Geübte Berggänger ist. Unzählige Stellen bergen ein absolutes Absturzrisiko.

Col de la Fache: Wunderschön und extrem gefährlich.

 


Rad: ROCKY MOUNTAIN Thunderbolt 750 (27,5")
Genutzte Bereifung:
Continental Mountain King 2,4" (v) / Mountain King 2,2" (h)

Tagesstrecken:


Tag 1: Lourdes -  Cauterets
Tag 2: Cauterets - Refuge Wallon
Tag 3: Refuge Wallon - Col de la Fache - Refugio de Respomuso

Tag 4: Refugio de Respomuso - Sabiñanigo


Bleibende Eindrücke:


  • Die traumhafte und abwechslungsreiche Natur mit zahlreichen verschiedenen Vegetationsstufen.
  • Der Beinahe-Hitzschlag auf der ersten Etappe.
  • Das Einbrechen auf Schneefeldern vor dem Pass: Eine Grenzerfahrung, die ich nicht noch einmal machen muss.
  • Die härteste Etappe meiner bisherigen MTB-Karriere am Tag über den Col de la Fache. Bis zur totale Verzweiflung.
  • Der Geschmack von gekühltem Eistee am Abend.


Fotos: