Karpaten 2019


Der Sommer 2019 sollte ich als ein ganz besonders spannender herausstellen. Im Juli hatte ich bereits die Pyrenäen von Frankreich nach Spanien überquert - eine Tour, die sich als ausgesprochen riskant herausgestellt hatte - und wenige Tage später war ich einmal mehr über die Alpen gefahren, diesmal als Führer meiner eigenen Gruppe. Im August wurde dann ein Traum für mich wahr: Der Outdoor-Marktführer GLOBETROTTER fragte wegen Vorträgen in mehreren deutschen Städten an. Kurz danach entschloss sich die Kultmarke MARIN BIKES aus Kalifornien dazu, mich auf meinen Abenteuern zu unterstützen, startete ein Sponsoringprogramm und rüstete mich mit einem neuen Rad und Kleidung aus. Unwahrscheinlich motiviert reiste ich daraufhin am 26. August ins Kaisergebirge nach Österreich, wo ich mich für einige Tage auf mein neues Bike einstellte. Direkt im Anschluss an die bizarre Welt des Kaisers nahm ich am 29. August Kurs auf Polen, von wo aus ich meine Überquerung und Umrundung der Tatra in den Karpaten starten wollte. Nach 10-stündiger Autofahrt kam ich schließlich am Abend in Zakopane an und suchte mir ein Hotel.

Am Morgen des 30., das Wetter war freundlich, sonnig mit vereinzelter Bewölkung, sattelte ich mein neues Pferdchen und begann den Anstieg ins Gebirge. Die ersten 13 Kilometer über ging es fast ausnahmslos bergan, versetzt mit einzelnen Senken, die die gerade gewonnen Höhenmeter immer wieder schwinden ließen. Insgesamt sollte ich an diesem Tag etwa 30 km nur mit Aufstiegen verbringen. Das Gelände zu den Seiten der Wege und Straßen zeigte sich von seiner urigsten Art: dichtgewachsene Wälder und Sträucher, die eine unwahrscheinliche Unnahbarkeit auszustrahlen schienen. "Uneinschätzbar" war der Begriff, der mir immer wieder durch den Kopf schoss. Hier sollten sie ja noch heimig sein: Bären und Wölfe und das in großer Zahl, besonders auf der slowakischen Seite. Man konnte nicht wissen, wo sie gerade umherstreunten oder schliefen. Wenn man daheim sitzt und seine Routen plant, weiß man zwar, mit welchen Umständen im Zielgebiet zu rechnen ist, aber wie sehr dies wirklich der Fall ist, merkt man erst, wenn man mitten drin steht oder eben fährt. Die Natur genießend und doch immer mal wieder aufmerksam auf die Geräusche im Wald hörend fuhr ich weiter, ohne Angst, aber mit einer gewissen Portion Respekt vor der heimischen Tierwelt, immer weiter in die Höhe der Tatra. Über den Gipfeln zogen sich die Wolken zusammen; es wurde dunkler und dunkler. In der Ferne grollte es schon seit dem frühen Morgen, aber noch schien es keinen Grund zur Eile zu geben. Eine Woche vorher waren in der Tatra jedoch fünf Menschen durch Blitzschlag umgekommen. Sollte es hier wirklich so riskant zugehen?

Gegen Mittag erreichte ich die Grenze zur Slowakei bei Łysa Polana. Es ging nochmals höher in die Berge, denn gerade hatte ich eine längere Abfahrt in das Grenztal hinter mich gebracht. Egal wie schwer ich auch beladen war, es galt den Pass zu überqueren. Und so kämpfte ich mich weiter voran, bis ich am frühen Nachmittag Strednica erreichte. Es begann, leicht zu regnen. Die Schauer hielt jedoch nicht lange an und es wurde wieder freundlich. Bis etwa 15:30 Uhr sollte es im Anschluss noch trocken bleiben. Zu dieser Zeit befand ich mich gerade auf dem Weg zum Etappenziel Vysoké Tatry. Ich erklomm gerade eine sich endlos ziehende Straße, die aufgrund des mittlerweile dichten Wolkenvorhangs bereits zu dieser Uhrzeit den Wald wie zu Abend wirken ließ, als wie aus heiterem Himmel ein heftiges Gewitter einsetzte. Binnen Sekunden prasselten sintflutartige Wassermassen und dann auch Hagel auf mich nieder. Da ich nun bereits ziemlich geschlaucht war und nicht einschätzen konnte, wie lange es noch bergauf gehen würde, musste ich der Vernunft Vorrang geben, machte eine Kehrtwende und raste die, wie ich hinterher herausfinden musste, fast schon komplett hinter mich gebrachte Anhöhe zum nächsten Dorf herab. Komplett bis auf die Socken und Unterwäsche durchnässt, kam ich an einer Bushaltestelle an, wo sich bereits andere vor dem Unwetter in Schutz gebracht hatten. Hier sollte ich nun zwei Stunden zur Untätigkeit verdammt sein, während das aggressivste Gewitter über uns tobte, das zumindest ich bis zu diesem Zeitpunkt erlebt hatte. Spätestens jetzt waren mir zwei Dinge klar: Erstens ist es in der Tatra aufgrund der dichten und hohen Wälder fast unmöglich, herannahende Wolkenfronten im Auge zu behalten und zweitens konnte ich mir nun sehr gut vorstellen, dass die Gewitter der Hohen Tatra einen das Leben kosten können.

Die Stunden vergingen und das Gewitter schien kein Ende zu nehmen. Es wurde nun auch immer dunkler. Ich hatte zwar ein Dach über dem Kopf, aber weder wollte ich mir am Abend oder in der Nacht noch eine Erkältung zuziehen noch wollte ich nicht ausprobieren, ob man in dieser Bushaltestelle des nachts alleine bleibt oder nicht. Vysoké Tatry ist bekannt für die große Braunbärenpopulation und dafür, dass die Tiere in der Dunkelheit bis in die Dörfer hinabsteigen. Eine offene Bushaltestelle schien mir daher kein idealer Ort für eine Übernachtung zu sein. Die Entfernung und das Terrain bis zum ursprünglichen Ziel nicht einschätzen könnend sah ich mich gezwungen, mich nach einer anderen Übernachtungsmöglichkeit umzusehen. Mit Blick auf Karte und Internet wählte ich den Ort Spišská Belá, der auf niedrigerer Höhe in etwa zehn Kilometer Entfernung verlockend erschien. Dorthin, so war mir klar, würde die Strecke zumindest ausschließlich bergab führen. Als der Niederschlag irgendwann am frühen Abend nachließ, sah ich meine Chance gekommen, packte meine Sachen zusammen und schoss hinab ins Tal. Aus dem Gebirge herabfahrend konnte ich sehen, dass der Himmel nun zunehmend aufklarte. Ein wunderschönes Abendlicht schien hinab und ließ mich ein wenig bedauern, dass ich nicht doch nochmal den Aufstieg nach Vysoké Tatry versucht hatte, aber manchmal geht die Sicherheit vielleicht vor. Es war ja auch nichts verloren. Nur den Anstieg ins Gebirge, den sollte ich am nächsten Tag wiederholen müssen. Als ich in Spišská Belá ankam, fand ich leider kein Hotel oder eine Pension. Es war nun auch wieder heller und ich wollte mich noch nicht mit dem Ende der heutigen Tour abfinden. Also setzte ich meinen Weg noch für eine weitere Stunde fort und navigierte nach Kežmarok, dessen graue Außenbereiche nicht gerade erahnen ließen, dass im Stadtzentrum eine hübsche kleine Straße mit netten Geschäften, Restaurants und auch einigen wenigen Übernachtungsmöglichkeiten auf mich warten sollte. Hier fand ich nach 64 Kilometern schließlich eine Bleibe für die Nacht.

Am zweiten Tag in den Karpaten hatte ich einen langen Anstieg vor mir. Es war heiß und extrem schwül. Der aufsteigende Asphaltgestank tat sein Übrigens dazu. Mir machte die Auffahrt nach Vysoké Tatry keinen Spaß. Aber mir war bewusst, dass ich wieder da hoch musste, wenn ich meine Reise in der Tatra fortsetzen wollte. Gegen Mittag erreichte ich den Ort, gönnte mir eine Mahlzeit und hielt mich über den Nachmittag immer gen Westen. Über viele Stunden  folgte ich den verwachsenen, durch hohe Gräser führenden Pfaden und der Straße über die vielen kleinen Ortschaften der Gemeinde. Ab frühem Nachmittag zog sich jedoch der Himmel wieder zu. Ich ahnte den nächsten spontan eintretenden Gewitter-Überfall und rollte nun voran mit diesem latenten Gefühl, gehetzt zu werden, dass mich immer wieder schnell hinter Atem kommen ließ. Ich musste das Tempo drosseln, denn wie schon am ersten Tag führte die Strecke wieder über zahllose Anhöhen und Senken. Das Gewitter blieb aus und so führte mich diese Tour, nachdem ich einmal das passende Tempo gefunden hatte, immer weiter hinauf bis nach Štrbské Pleso auf etwa 1400 m. Da die Weiterfahrt bis hinab nach Liptovský Mikuláš noch mehrere Stunden und etwa 60 zusätzliche Kilometer bedeutet hätte, auf denen es kaum größere Ortschaften zu geben schien, ließ ich auch an diesem Tag wieder die Vorsicht walten und nächtigte nach 50 gefahrenen Kilometern hier oben im Gebirge.

Der dritte Tag sollte der vielleicht aufregendste werden. Er startete mit tollem Wetter und prallem Sonnenschein. Von Štrbské Pleso ausgehend gab es zunächst eine entspannende, längere Abfahrt für mich. Immer wieder hielt ich aber an, um Fotos zu machen, denn die Natur hier lockte mit den tollsten Aussichten der gesamten Tour. Ich folgte ab Mittag einem engen, dicht verwachsenen Pfad. Ich konnte die Natur in ihrer Ursprünglichkeit geradezu aufsaugen. Allerdings fühlt man sich hier in diesem dichten Bewuchs aus hohen Gräsern und tiefen Wäldern auch wirklich ausgesprochen klein, man möchte fast sagen: verletzbar. Die hohen Gräser um mich herum ließen mich schon wieder ungebetene Pelztiere befürchten. Aber ich hatte ja keine Wahl. Wer die Schönheit der Tatra erfahren möchte, muss in sie hinein. Dies intensiviert natürlich die Rückbesinnung auf die Wurzeln des "Nur"-Mensch-Seins sowie das Gesamterlebnis eines echten Abenteuers. Fasziniert lauschte ich immer wieder der Stille, die nur durch das Zirpen der Grillen unterbrochen wurde. Direkt vor mir bot sich die imposante Aussicht auf das Wahrzeichen der Slowakei, den Kriváň (2495 m). Ein majestätischer Anblick, der in minutenlang in mich aufsog.

Ich passierte Podbanské. Hier, mitten im Wald, lud mich die Belá dazu ein, an ihrem Ufer zu verweilen. So genoss ich einige Zeit die malerische Szenerie und träumte vor mich hin. Plötzlich wurde es jedoch schlagartig dunkel. Mit Blick gen Himmel musste ich feststellen, dass dieser mit Gewitterwolken komplett zugezogen war. Und schon fing es auch an donnern. Die ersten Blitze schossen in einiger Entfernung nieder. Jetzt galt es einmal mehr, kräftig in die Pedale zu treten. Welch‘ launisches Gebirge, diese Tatra! In wenigen Minuten war ich mal wieder bis auf die Socken durchnässt und strampelte von Blitz und Donner gehetzt in Richtung der nächsten Ortschaft. Hier blieb ich im Schutz einer kleinen Souvenirbude stehen, bis das Gewitter vorübergezogen war. Zu lange hatte ich mich offenbar mit dem Machen von Fotos und Videos aufgehalten. Aber wenn man einmal hier ist, muss man diese Chance nutzen.

Das Ziel war nun klar: Schnell weiter hinab bis nach Liptovský Mikuláš. Die Fahrt verging ohne nennenswerte Ereignisse. Weiter unten im Tal schien natürlich plötzlich wieder die Sonne in voller Pracht. In Liptovský Mikuláš erwartete mich dann dasselbe Bild wie in Kežmarok: Graue Außenviertel, Plattenbauten, kaputte Straßen und im Zentrum ein hübscher, sauberer Platz mit einer sehenswerten Kirche, großen Bühne, zahlreichen Cafés, Restaurants und Live-Jazz. Die 60 Kilometer dieses Tages hatten wahrlich alles geboten, was das Abenteurerherz begehren könnte: Sonnenschein, Gewitter, romantische Flussufer, einsame Pfade in der Wildnis.


Zwischen mir und dem Ausgangspunkt Zakopane lagen jetzt noch etwa 90 Kilometer. Einmal mehr galt es, in die Berge hinaufzufahren. Diesmal musste die Westtatra überquert werden. Das Wetter für den vierten Tag war als ausnehmend schlecht angekündigt und so regnete es in Strömen bereits am frühen Morgen. Ungünstigerweise war auch für den folgenden Tag ausschließlich Regen angesagt. Und da Regen hier oft mit Gewittern einherging, musste ich klein denken. Mein Ziel war daher der Ort Zuberec, etwa 40 Kilometer entfernt auf der nördlichen Seite der Westtatra. Wenn ich es bis dorthin schaffen würde, hätte ich am nächsten Tag nur 50 km im Regen hinter mich zu bringen. Bei gutem Durchkommen wollte ich es jedoch bis nach Ovarice oder sogar Vitanova schaffen.

Ich verließ das Hotel früh und begann meine Etappe im Regen. Wie schon so oft auf dieser Tour war ich schnell triefend nass und fuhr so fast den ganzen restlichen Tag über. Die ersten 20 km ging es zügig voran. Die nasse Fahrbahn fuhr sich zumindest geschmeidig. Die Berge der Tatra waren in Nebel gehüllt. Irgendwann jedoch endete die Straße einfach an einem Wanderparkplatz, von dem der weitere Weg nur durch eine fünf Kilometer lange Schlucht führte. Absolute Regenwaldzustände herrschten hier vor. Düstere, urige und sehr nasse Natur, deren massive Anstiege, die nur durch Schieben zu bewältigen waren, mich fast anderthalb Stunden kosten sollten. Irgendwann gelangte ich endlich an die Straße und setzte meinen Weg nach Zuberec fort. Dort gegen Mittag angekommen entschloss ich mich nach einer Pause, wie geplant weiter nach Ovarice und Vitanova zu fahren. Diesmal ging es für etwa 10 Kilometer steil bergan. Dabei hatte ich gehofft, das Gröbste bereits hinter mir zu haben. Die dunklen Wälder zur Rechten und Linken wirkten ermüdend. Die nasse Kleidung, das Wasser in den Schuhen, der Matsch, der überall am Rad und meiner Kleidung klebte, nahm ich schon gar nicht mehr wahr. Ich hatte die Kapuze über dem Kopf und redete mir ein, dass es ja bald geschafft sei.

Ab Ovarice jedoch blieb die Strecke flach und manchmal konnte man sogar rollen lassen. Ich sah meine Chance gekommen, sogar noch die polnische Grenze zu überqueren. Gesagt, getan. Motiviert hängte ich weitere Kilometer dran. Leider fand ich aber in Chocholów kein Zimmer. Alles schien ausgebucht und der ansonsten nur telefonisch mögliche Kontakt zu den Inhabern der Unterkünfte erschwerte eine spontane Zimmernutzung für meinen Geschmack zu sehr. Und dabei war ich vollkommen fertig, eigentlich schon seit der Schlucht gegen Mittag. Ich hatte bereits jetzt mehr Kilometer gefahren als ursprünglich erhofft. Zwei Stunden blieben mir noch bis zum Sonnenuntergang, als das Navigationssystem mir sagte, dass es noch fünfzehn Kilometer bis Zakopane wären. War dies ein göttlicher Wink? Wie dem auch immer war, ich deckte mich nochmal mit Süßigkeiten und Getränken ein. Mit einem Schokoriegel namens "Attack" musste man doch etwas bewirken können! So quälte ich mich noch eine letzte Stunde weiter und kam unglaublicherweise noch am selben Tag nach schrecklich nassen, dreckigen und voller harter Anstiege nur so strotzenden 90 km schließlich am Ziel an! Eine wahnsinnige Tour ging nach fast 260 maximal wechselhaften Kilometern doch noch so versöhnlich zu Ende. Die Tatra, ein wahrhaft abenteuerliches Gebirge, wo man Wildnis noch ohne Netz und doppelten Boden erleben kann…


Rad: MARIN San Quentin 3 (27,5")
Genutzte Bereifung:
Veetire 2,6" (v + h)

Tagesstrecken:


Tag 1: Zakopane-
Kežmarok (64 km)
Tag 2:
Kežmarok - Štrbské Pleso (46 km)
Tag 3:
Štrbské Pleso - Liptovský Mikuláš(60 km)
Tag 4:
Liptovský Mikuláš - Zakopane (90 km)


Bleibende Eindrücke:


  • Die pure Wildnis, wunderschön und uneinschätzbar.
  • Das extrem wechselhafte Wetter.
  • Das ergreifende Gefühl, endlich eine Bushaltestelle gefunden zu haben, die einen vor der Witterung schützt.

Fotos: