Himalaya 2018


Rad: ROCKY MOUNTAIN Thunderbolt 750 (27,5") inkl. Packtaschen.
Genutzte Bereifung:
Continental Mountain King 2,4" (v) / 2,2" (h)
Tour-Profil: 257 km, 22.000 Höhenmeter, Spätwinter, subtropisches Klima in den niederen Lagen, tagsüber warmfeucht, nachts frisch, weiter oben im Gebirge eher trocken, tagsüber mild, ab Spätnachmittag im Minusbereich zwischen -5 und -25 Grad Celsius (nachts), permanenter Steilanstieg über verblocktes Gelände auf dem Hinweg zum Pass, außerdem  geringer Sauerstoffanteil in der Luft ab 4000 m, nach dem Pass täglich aufkommender Sandsturm im Kali Gandaki-Tal.


Tagesstrecken:


Tag 1: Besisahar - Syange
Tag 2: Syange -
Tal
Tag 3:
Tal - Danakyu
Tag 4: Danakyu - Chame
Tag 5: Chame - Lower Pisang
Tag 6: Lower Pisang - Manang
Tag 7: Manang (Akklimatisationstag inkl. Wanderung)
Tag 8: Manang - Yak Kharka
Tag 9: Yak Kharka - Ledar
Tag 10: Ledar - Thorong High Camp
Tag 11: Thorong High Camp - Muktinath
Tag 12: Muktinath - Tukuche
Tag 13: Tukuche - Beni
Tag 14: Beni - Nayapul


Wenn man den Mountainbikesport mit Inbrunst betreibt, sich immer weiter ausprobieren möchte, kommt, so möchte ich behaupten, eines Tages der Moment, da man unweigerlich an die Königin aller Bergabenteuer denken muss: den Himalaya. Fremde Kulturen und Religionen, fast vergessene Täler, eine exotische Tier- und Pflanzenwelt, gewaltige Achttausender, die vom subtropischen Klima bis zur klirrenden Kälte mit allem aufwarten können, das der geneigte Reisende sich wünschen oder fürchten könnte – das alles und noch mehr findet man im Himalaya. Zunächst noch schnell als wirres Hirngespinst eines im Berufs- und/oder Familienleben eingespannten Westlers verworfen oder auf Seite geschoben, glimmt die Idee, sich dort zu versuchen, ähnlich einem kleinen Funken im Inneren weiter, nur um schließlich als heißloderndes Feuer die ganze Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Ab und zu hatte ich über die Jahre daran gedacht, den Himalaya zu befahren und war eigentlich immer wieder gleich davon abgekommen, wenn es daran ging zu überlegen, welche logistischen und bürokratischen Hürden dabei zu nehmen wären. Im September 2017 jedoch – soeben frisch durch eine schwere Zerrung am Fuß für einen kompletten Monat außer Gefecht gesetzt und bereits mit dem Ziel, Andalusien komplett zu durchfahren, was ich einen Monat später auch tun sollte – packte mich eines Abends vor dem Fernseher der Gedanke, mal kurz nachzusehen, wie das Wegenetz im Himalaya eigentlich wirklich aussieht. Zu diesem Zweck musste ich mir mittels des Internets zunächst einmal ein Bild der legendären Achttausender machen und schauen, wo diese eigentlich genau liegen. Schnell war herausgefunden, dass die meisten davon, vor allem jene, die man vom Flughafen noch am ehesten erreichen kann, in Nepal zu finden sind.

Nun musste eine Karte für meine Navigationssoftware her, die ich mir im Internet besorgte. Ich fing sofort nach der Installation damit an, die Region zu überfliegen, Entfernungen abzuschätzen und mir die ersten Städtenamen einzuprägen, wobei ich direkt einige wichtige Beobachtungen machen konnte. Die erste Erkenntnis war, dass es im Himalaya nicht das üppige, weitverzweigte Wanderwegenetz gibt, wie wir es etwa aus den Alpen kennen. Stattdessen gibt es dort entweder gar keine wirklich ausgebauten Wege oder aber es handelt sich um sogenannte „Circuit Treks“, die einmal um einen der meist bekannteren Berge herumführen. So ist es etwa der Fall bei der Annapurna und dem Manaslu.
Die nächste Beobachtung war, dass die Region des Mount Everest, in der Sprache der Nepalesen eigentlich „Sagarmatha“, in der der Tibeter „Chomolungma“ (europäische Schreibweise), nur ausgehend von einem Hochplateau ab dem Flughafen Lukla zu erreichen ist. Da mir dieser Berg touristisch sowieso ausgeschlachtet erschien und mit dem Ausklammern dieser Region auch die übrigen dortigen Achttausender wie der Lhotse oder Makalu wegfielen, fokussierte ich mich auf die Berge, die ich als bisher unwissender Biker ohne Ortskenntnis glaubte, ab Kathmandu ohne weitere Flüge am besten erreichen zu können. Diese waren der Dhaulagiri (der „Weiße Berg“) westlich Pokharas, also schon ein großes Stück von Kathmandu entfernt, das Annapurna-Massiv nördlich Pokharas - immerhin schon etwaas näher - sowie der Manaslu nördlich der alten Königsstadt Gorkha. Da der Dhaulagiri von der vorbeiführenden Hauptverkehrsroute aus gesehen und von daheim innerhalbe einer zweidimensionalen Software eingeschätzt doch zu weit nach hinten weg im Gebirge zu liegen schien sowie als sehr verlassene Gegend quasi keine Unterkünfte bieten kann, zudem auch, wie ich schnell herausfinden konnte, nur unter erhöhtem Risiko zu bereisen ist, waren mir die Annapurna und der Manaslu direkt etwas sympathischer.
Für einige Abende kümmerte ich mich rein intuitiv erst einmal um die Annapurna. Sofort entdeckte ich den „Annapurna Circuit Trek“, der einmal komplett um das Massiv herumführt. Auch wenn die Tatsache, dass dieser Weg einen offiziellen, englischen Titel trägt, so wirken mag, als ob man es dabei mit einem Wanderweg für Touristen zu tun hätte – was teilweise auch durchaus nicht falsch ist -, so darf man nicht unterschätzen, welche Dimensionen man dort zu bewältigen hat. Wege dieser Art sind keinesfalls mit einer „Waldautobahn“ vergleichbar, wie wir sie in Europa allerorts vorfinden. Man überquert eine maximale Höhe von weit über 5000 Metern und ist bereits auf dem Weg dorthin permanent dem Risiko der Höhenkrankheit ausgesetzt, weshalb ein solches Unternehmen immer besser mit aller Ruhe bewältigt wird, um dem Körper alle paar Tage die Möglichkeit einer am besten wirklich mehrtägigen Rast zu ermöglichen. Dazu sind diese Wege extremst steil und in der Regel komplett verblockt oder zumindest mit dicken Steinen überflutet, verlaufen dazu in Serpentinen und sind nicht immer frei vom Steinschlagrisiko. Zentral sollte für mich der Aspekt der Steigung werden. Nicht selten steigt die Route schlagartig so stark an, dass man sie nur noch mit einer kleinen Kletterpartie oder minutenlangem Stoßen fortführen kann. Wo der Wanderer hier noch aus dem Vollen schöpfen kann, hat der Mountainbiker ein Problem: sein Rad samt diverser Gepäcktaschen, eine Kombination, die er nun irgendwie weiterwuchten muss, wenn er dem Rundweg weiter folgen möchte. Und da ein solcher „Ausflug“ natürlich mit monatelanger Vorbereitung, diversen Impfungen, umfassenden Planungen und nicht zuletzt auch mit jeder Menge Geld zu tun hat, ist die Option, nach halber Strecke doch noch umzukehren, keine wirkliche. Auch wenn es sich für einen Außenstehenden unvernünftig lesen mag, wenn ich hier davon schreibe, dass eine Umkehr keine Option darstellt, so muss ich verteidigend einwenden, dass niemand, der eine solche Reise bisher nicht selbst durchgeführt hat, nachfühlen kann, was ich hier beschreibe. Der geneigte, ehrgeizige Wanderer oder eben Mountainbiker wird es jedoch sicherlich verstehen. Man bewegt sich in solchen Situationen sicher auf einem schmalen Grat zwischen Unvernunft und Vernunft, zwischen Resignation und Entschlossenheit, zwischen Erfolg und Misserfolg der selbst auferlegten Mission.

Je mehr ich nun über den Annapurna Circuit Trek las, desto öfter fand ich im Internet verunsichernde Meinungen, die darlegten, wie überlaufen und touristisch ausgelaugt diese Route sowie die Region der Annapurna in den letzten Jahren geworden sei. Dummerweise ließ ich mich davon vorübergehend von meinen bisherigen Vorbereitungen abbringen und wich daher auf die Idee einer Manaslu-Umrundung aus, bei der ich glaubte, „mehr“ Abenteuer oder „individuelleres“ Abenteuer erleben zu können, zumal diese Gegend nach dem Erdbeben des Jahres 2015 und der damit einhergehenden immensen Zerstörung bislang noch nicht in besonderem Maße vom Tourismus heimgesucht sein soll. Auch hier am Manaslu fand ich auf der Karte einen einzigen großen Rundweg, den „Manaslu Circuit Trek“. Wieder verfolgte ich meine Idee für einige Tage. Die abgespeicherten Internetseiten, die sich rund um die Natur, Religion und den Gesundheitsstand des Landes Nepal drehten, wurden immer zahlreicher. Dutzende hatte ich mir über die vergangenen Tage und Wochen angesehen und vieles hatte ich dabei schon gelernt. Schließlich fand ich eine weitere Seite, die gute Informationen zum Circuit Trek enthielt und die an einer Stelle auszudrücken schien, dass man den Trek nur in Begleitung bereisen dürfe. Ich kontaktierte die Inhaber der Seite und erfuhr schnell, dass ich nur mit einer zweiten Person meiner Wahl oder einem Bike-Guide reisen dürfe. Dies war eine herbe Enttäuschung für mich, hatte ich mir doch von Anfang an erhofft, dieses Abenteuer ohne Fremdhilfe angehen zu können und eben ohne mich dabei als typischer Tourist mit einem Aufpasser an meiner Seite fühlen zu müssen. Aber Gesetz ist eben Gesetz, auch in Nepal. Und so bedankte ich mich für die Auskunft, nicht jedoch ohne zu fragen, ob dies bei allen anderen Achttausendern in Nepal auch so sei. Man teilte mir mit, dass man etwa den Annapurna Trek solo bereisen dürfe.

So musste ich mich nun entscheiden, ob ich das Abenteuer Himalaya mit einem Guide am Manaslu durchführen, es ganz abblasen oder als Solorunde um die Annapurna gestalten wollte, bevor ich mich noch unnötig wochenlang damit befasste. Aufgeben schien mir keine Alternative zu sein und einen Guide wollte ich schlichtweg nicht an meiner Seite, denn es kam meiner Vorstellung eines Abenteuers mit meinem eigenen Ich einfach nicht nahe genug. Letztlich entschied ich mich daher für die Annapurna und hoffte, dass mich mein gesunder Menschenverstand schon nicht täuschen und diese Region alles andere als überlaufen und langweilig sein möge. Ich sollte mich nicht irren.

Wenige Wochen, nachdem ich meinen Entschluss einer Himalayareise gefasst hatte, hatten sich bereits zahllose Printtitel der Fachliteratur bei mir angesammelt. Diverse Wanderkarten und Reiseführer über die Manaslu und Annapurna Circuit Treks waren darunter, ebenso Bücher über das „vergessene Tal“ Tsum Valley sowie Veröffentlichungen zum Thema Wetterkunde im Gebirge. Ich wollte bestmöglich vorbereitet sein. Insbesondere was die physische Wegstrecke anbelangte sollten keine Fragen offen bleiben, spürte ich doch, dass meine Aufmerksamkeit in den kommenden Wochen und Monaten sowie auch später vor Ort in Nepal den Bereichen Hygiene und Gesundheit gewidmet werden müsste. Die akute Höhenkrankheit, dazu die nicht als gänzlich ungefährlich einzustufende Fauna mit diversen Giftschlangenarten, Krankheiten übertragenden Insekten sowie Bären, Tigern (im Süden), Leoparden (eher am Manaslu), Schneeleoparden und schließlich die Trinkwasser- und Hygienestandards, die nicht auf westlichem Niveau einzustufen sind, boten genug Potenzial für Kopfzerbrechen.

Über die Tiere konnte ich mir genug anlesen. Letztlich waren sie nun einmal Teil der dortigen Natur und als solcher nicht auszuklammern. Zuviele Gedanken daran zu verschwenden, schien sinnlos, nicht zuletzt auch weil im Bereich der Annapurna nicht mit Tigern und Leoparden zu rechnen ist. Dringlicher war da schon die rechtzeitige Organisation verschiedener Impfungen und ärztlicher Checks. So ließ ich mich in den folgenden Wochen und Monaten gegen Tollwut und Hepatitis A impfen und über die relevanten Tropenkrankheiten wie Malaria, Denguefieber und die Japanische Enzephalitis informieren. Schnell rückte ich von dem Gedanken an eine Malaria-Schutzimpfung ab, da diese Krankheit vor allem eher in den südlichen Regionen und da nur auf unterhalb 2000 Metern sowie während der Monsunzeit im Umlauf ist, ich jedoch am Ende des Winters abzureisen beabsichtigte. Weiterhin kümmerte ich mich frühzeitig um mein Visum, das ich nicht erst am Flughafen in Kathmandu ausstellen lassen wollte. Die dortigen Warteschlangen wären mir nach einer vielstündigen Flugreise ein Gräuel gewesen und überhaupt habe ich meine Schäfchen lieber schon vor der Abreise im Trockenen. Zu guter Letzt mussten noch einige spezielle, nützliche Dinge besorgt werden. So war ich vorher nie mit einem Schlafsack gereist und auch einen neuen, größeren Rucksack (40 L) und dicke Handschuhe für die wirklich tiefen Temperaturen in den höheren Lagen besorgte ich mir. Zudem brauchte ich unbedingt eine Stirnlampe für die Nächte und ausreichend viele Aufbereitungstabletten, um die Wasserqualität soweit anheben zu können, dass man sich nicht permanent Sorgen über Durchfallerkrankungen würde machen müssen. Ebenso wichtig war das Zusammenstellen einer kleinen Reiseapotheke. Schmerzmittel sollte in jedem Fall dabei sein. Von zweifelhafter, hierzulande sowieso nicht ohne Rezept erhältlicher Medizin als Prophylaxe gegen Lungen- und Hirnödeme  nahm ich Abstand. Ein langsamer, bedachter Aufstieg ist immer noch die sicherste und sauberste Vorkehrung, die ein Reisender in diesem Teil der Erde treffen kann. Weiterhin brauchte ich natürlich Sonnencreme für die grellen Tage im Hochgebirge. Dort oben würde man nichts dem Zufall überlassen wollen. Der nötigste Kauf war aber natürlich der Fahrradkoffer, mit dem ich beabsichtigte, ein ausgewachsenes Mountainbike mit L-Rahmen einmal per Flugzeug um den halben Erdball und dann mittels wackeligem Bus über brüchige Straßen in die Berge zu transportieren. Nach einiger Zeit des Umschauens entschied ich mich für einen Hartschalenkoffer – die richtige Wahl.

Was die Kleidung anging, so fiel meine Wahl auf eine kurze und eine lange Hose, dazu dicke Wanderschuhe für das sichere Gehen auf geröllbeladenen, steilen Wegabschnitten. Ich nahm ferner ein T-Shirt, ein enganliegendes Skiunterhemd und einen Pullover mit. Darüber wollte ich im Bedarfsfall meine Softshelljacke tragen. Wichtig ist das Tragen vieler verschiedener Schichten. Im Februar sollte man in den nepalesischen Bergen auf alles eingestellt sein. Wo es in den niedrigeren Lagen bis unterhalb 2000-2500 m tagsüber noch sehr warm und feucht ist, weicht dieses Klima ab einer gewissen Höhe mehr und mehr hochalpinen Zuständen. Hier nimmt die Feuchtigkeit langsam ab und die Sonneneinstrahlung spürbar zu.

Bei der sonstigen Ausrüstung hatte ich mir zwar zunächst einige Gedanken bezüglich des Rads gemacht, weil ich im Himalaya zwar einerseits holperige Pfade erwartete, andererseits aber tagelange Anstiege. Dennoch entschied ich mich wieder dafür, vollgefedert zu reisen. Ich zog zusätzlich zu meinem 2,4er CONTINENTAL „Mountain King“ am Vorderrad nun auch einen Mountain King in 2,2“ am Hinterrad auf. Dazu spendierte ich meinem Gaul zwei Radtaschen, eine für das Oberrohr, wo ich meine Kamera unterbrachte, so dass ich sie während des Fahrens würde in die Hand nehmen und fotografieren können, und eine Satteltasche, in welcher ich neben einigen Schokoriegeln mein nötigstes Werkzeug wie das Multitool, das Reifenreparaturset,  einen Ersatzschlauch sowie einen Schraubenschlüssel und Reifenheber unterbrachte.

Kurz vor Weihnachten 2017 hatte ich eine ungeplante, aber umso ideale Bekanntschaft machen dürfen. Beim Einkauf in einem Geschäft für Outdoorkleidung und –zubehör lernte ich Namgel Sherpa kennen, seinerseits zufälligerweise selbst Nepalese und professioneller Kletter- und Trekkingguide aus dem Everestgebiet. Die Liebe hatte ihn einige Jahre zuvor nach Deutschland verschlagen, wo er seitdem lebt und arbeitet. Daneben führt er die Solukhumbu Nepalhilfe und reist und zu nach Nepal, um neue Gruppen in die Berge zu führen. Wir trafen uns dann einmal, um noch diverse Fragen, die ich hatte zu klären, vor allem die nach der Passierbarkeit des Passes im späten Winter. Wohingegen im Internet der Eindruck entsteht, dass der Pass zu dieser Jahreszeit nicht passierbar wäre, ist es in der Realität durchaus möglich, ihn gefahrlos zu überqueren, vorausgesetzt, man hat das Wetter im Auge und auch immer einen Blick für die Bodenverhältnisse übrig. Namgel vermittelte mir dann seinen Cousin Dorjee, der in Kathmandu lebt. Dorjee sollte wenige Tage später mein Cityguide sein und mich vom Flughafen mitsamt meinem riesigen Radkoffer abholen und zum Hotel sowie dann von dort am nächsten Tag mit einem Bus zum Zielgebiet bringen.

Am 16. Februar 2018 ging schließlich mein Flug ab Köln-Bonn, zunächst über Istanbul und dann nach Kathmandu. Ich kam am nächsten Tag gegen Mittag in Nepal an und durchlief das teils etwas umständliche Einreiseprozedere. Als ich aus dem Flughafen heraustrat, erfuhr ich das, was man gemeinhin als geradezu „Kulturschock“ bezeichnet. Vor mir stand eine unüberschaubare und bestialisch schreiende Menschenmasse, die wie wild mit Schildern in der Hand herumfuchtelte. Viele der Menschen trugen Gesichtsmasken. Ich befürchtete im ersten Moment eine Art Krankheit und mit ihr Ansteckungsgefahr. Schließlich trat ein kleiner Mann auf mich zu. Es war Dorjee. Dorjee schien gelassen, freundlich und von dem Chaos gänzlich unbeeindruckt. Er erklärte mir, dass die Menschen alle nach Touristen schrien, um diese chauffieren und damit etwas Geld verdienen zu können. Die Gesichtsmasken trugen sie aus Schutz vor dem Smog der Stadt. In der Tat war die Luft nicht gerade angenehm. Es war heiß, feucht und stickig. Dazu diese schreckliche Hektik. Zahllose Motorräder und Autos fuhren wie wild durcheinander und hupten sich gegenseitig an, als wir versuchten, einen Fahrer zu finden. Es scheint in der Natur der Nepali zu liegen, grundsätzlich positiv und selbstüberzeugt an eine auch unlösbare Aufgabe heranzugehen. Nicht anders konnte ich mir erklären, dass gleich mehrere Fahrer uns anboten, uns samt riesigem Radkoffer in ihrem Kleinstwagen zu transportieren und tatsächlich versuchten, den alleine schon optisch deutlich zu breiten, langen und hohen Koffer durch die Heckklappe über die nicht nach vorne umlegbare, hintere Sitzbank in das Gefährt zu wuchten. Es bedurfte einiger Überzeugungsarbeit, den Fahrern zu signalisieren, dass dies nicht möglich war und sie bitte den Koffer wieder abstellen mögen. Als endlich ein kleinerer Bus gefunden und das Rad verladen war, ging es los auf meine erste Chaosfahrt durch den Dschungel von Kathmandu. Anschnallgurt? Fehlanzeige! Mehr als ein müdes, amüsiertes Lächeln hatte der Fahrer für die Frage danach nicht übrig. Ich verließ mich auf Dorjee, der einen Preis für die Fahrt aushandelte, während die erste Kurve unter lautem Hupen genommen wurde. Ich verstand zum Glück schnell, dass ich hier nicht mit mitteleuropäischem Vernunftdenken weiterkommen würde und besser versuchen sollte, mich entspannt zurückzulehnen und den Nepali und ihren Fahrkünsten sowie dem verkehrsinternen, unkommunizierten Selbstverständnis zu vertrauen. Während dessen schaute ich mich um. Abseits der Hauptstraße bestanden die Viertel und Straßen aus baufälligen Häusern, hierzulande würde man es „Ruinen“ nennen. Die Straßen selbst waren nicht asphaltiert und der lehmige Boden war durchsetzt von dicken Steinen, dem Abwässern aus den umliegenden Häusern und dem Kot der umherlaufenden Tiere wie Hunde, Hühner und Ziegen. Anständige Bordsteine gab es nicht überall. Zu oft mussten die Passanten dem nicht abtransportierten Schutt eines zusammengefallenen Haus ausweichen und sich derweil von den heranbrausenden Motorrädern oder Autos zusammenhupen lassen. Dies fiel auch sofort auf: Abbremsen kennt man im Straßenverkehr Nepals nicht. Denn dafür gibt es ja die Hupe! Die Hand lässt dabei für eine viertel Minuten nicht von der Trompete ab. Man hupt früh und macht so auf sich aufmerksam, geht dabei ganz natürlich davon aus, dass man schon auf Seite geht. Diese Taktik wird bei jedem Lebewesen gleichermaßen angewendet, egal ob es sich um einen Erwachsenen handelt, der gerade über die Straße geht, um einen Hund, ein Huhn oder ein kleines Kind. Apropos Kinder: Sobald ich dem Fahrer mit Humor freundlich erklärte, dass sie in Deutschland bereits keinen Führerschein mehr hätten, so wie sie in Nepal nur wenige Zentimeter an den Kindern vorbeirasen, war deren Tag bereits um ein wenig Lachen reicher. Aber wie heißt es so schön: Andere Länder, andere Sitten. Und so blieb mir nur, dem Geschehen weiterhin seinen Lauf zu lassen. Als wir am Hotel ankamen, kam es zum nächsten Kontrastprogramm: Das Hotel war ein alter Königspalast, abgetrennt vom Rummel der Stadt durch ein Anfahrtslabyrinth und große, schwere Tore, bewacht von bewaffneten Sicherheitskräften. Wir fuhren mit unserem stinkenden, ratternden Minibus vor – mitten auf den roten Teppich vor die Augen des am marmorierten Eingangsbereich versammelten, edel gekleideten Empfangskomitees. Kaum hatten wir die Türen geöffnet, kamen die Männer auch schon herbeigeeilt und nahmen unter tiefstem Knicksen und mit einem freundlichen „Welcome, Sir!“ meinen Rucksack und den Radkoffer an sich. Ich selbst, gekleidet in Tarnshorts, Bikeshirt und Kappe, unter der meine langen Haare hervortraten, folgte unauffällig und versuchte, mir meine ob der mir automatisch zugeteilten, geradezu kolonialistischen Herrscher-Rolle aufkommenden Amüsiertheit nicht anmerken zu lassen. Ich checkte ein, und dann ging es auch schon hinauf ins Zimmer, wo noch ein letztes Mal der Luxus zu regieren schien, bevor es am nächsten Tag in die ärmsten Gegenden dieses Landes gehen sollte. Ich nahm eine Dusche und brach dann mit Dorjee auf Sightseeingtour auf.

Und ich muss sagen: So gut ich nach meiner Reise durch die Berge auch mit dem Chaos in Kathmandu klarkommen sollte, so geschockt war ich an meinem Anreisetag von den Verhältnissen dieser Stadt. Schmutz, Hitze, Unorganisiertheit und Geruch waren nicht vergleichbar mit dem, was man aus Europa kennen könnte. Wie froh ich nur war, dass mir hier jemand den Weg zum Hotel gezeigt hatte und nun mit mir durch die Stadt streifte. Unser Ziel war der große Stupa in Bodnath, eines der wichtigsten Zentren des Buddhismus in Nepal. Hier verbrachten wir unseren Nachmittag beim Besichtigen des imposanten Baus und beim Shopping einiger letzter Utensilien für meine Reise, vor allem einer Powerbank und einer Rolle Klebeband, die ich im Verdacht hatte, noch irgendwann brauchen zu können. Wir umrundeten den Stupa viermal, was wohl unser Karma bedeutend aufwertete und die anschließende Pizza in der gehobenen Jazzbar umso besser schmecken ließ. Oder war es doch nur die Gewissheit, dass dies das letzte westliche Schlemmermahl für die kommenden Wochen sein würde? Zurück im Hotel ordnete ich einige Dinge in meinem Rucksack für den kommenden Tag und widmete mich meinem ebenfalls noch zünftigen Abendessen, bevor ich übermüdet auf meinem Bett einschlief.

Am nächsten Tag holte mich Dorjee nach dem Frühstück ab und wir besorgten einige notwendige Unterlagen für die Reise in das Annapurnagebiet. Grundvoraussetzung für die Einreise in das Gebiet waren die Organisation des Annapurna Conservation Area Permits (ACAP) sowie der TIMS-Card (Trekker’s Information Management System). Anschließend nahmen wir den Kleinbus vom ersten Tag zu einer Bussammelstelle an einem anderen Punkt Kathmandus, wo wir umstiegen in einen großen Bus für neun Personen, den wir nur für uns und den Radkoffer buchten. Es folgte eine siebenstündige Fahrt nach Besisahar. Wer nun denkt, dass dieser Ort weit entfernt liegen müsse, täuscht sich. In der Tat liegen nur 170 Kilometer zwischen Kathmandu und Besisahar. Dies sollte einen Eindruck davon vermitteln, wie schlecht die Straßenverhältnisse in Nepal sind. Man kann es in zwei Worten zusammenfassen: CHAOS PUR!

Die Höllenfahrt schüttelte uns kräftig durch. Trotzdem ließen wir uns die Laune nicht nehmen, sprachen derweil über die verschiedensten Themen wie das Leben in Nepal, Radsport, die Sherpas und natürlich die Liebe bzw. das, was jeder von uns darunter versteht. In jedem Fall war die Stimmung gut. Gegen Abend kamen wir in Besisahar an. Dieser Ort stellt die letzte größere Siedlung vor den Bergen diesseits der Annapurna dar. Die meisten Routen starten hier, nicht wenige sogar noch später, etwa bei Tal oder Jagat. Für mich zeigte sich, dass Besisahar ein idealer Startpunkt ist, endet doch hier die asphaltierte Straße. Supermärkte und kleinere Shops wechseln sich mit zahlreichen Hotels ab. Außerdem ist die Höhe mit ca. 780 m perfekt für eine ruhige, mehrtägige Höhenakklimatisation. Ein weiter oben gelegener Startpunkt hätte ein zu großes Risiko darstellen können – eine Annahme, die mir später noch als korrekt bewiesen werden sollte.

Angekommen in unserem kleinen Hotel baute ich im abendlichen Dämmerlicht mein Rad vor den immer größer werdenden Augen der nepalesischen Kinder zusammen und packte all das in den Koffer, was ich auf meiner Reise nicht brauchen würde. Den Schlüssel gab ich Dorjee, denn er sollte mit dem Koffer am nächsten Morgen nach Kathmandu zurückreisen und mich zwei Wochen später im Ort meiner Wahl zusammen mit diesem wieder abholen kommen. Unser Abendessen bestand aus einem landestypischen Dal Bhat, einer Speise aus Reis, Linsensuppe und Gemüse der Saison. Die Nepali nehmen dies zweimal pro Tag zu sich und nicht selten ein Leben lang. Vor allem die landesweite Tradition, ohne Aufpreis soviel Reis nachbestellen zu können, wie man möchte, macht dieses sehr preisgünstige Gericht zur ersten Wahl auf allen Reisen im Himalaya. Vor dem Schlafengehen schauten wir uns noch die Karte an und philosophierten über so manchen Teilabschnitt.

Am Morgen des 19. Februar standen wir um 7:00 Uhr auf und nahmen ein kleines Frühstück zu uns, bevor sich Dorjee mit meinem leeren Koffer auf den Rückweg machte. Nach der Dusche und der bis auf weiteres letzten Toilette westlicher Art zog ich mich an, schnallte ich meinen Schlafsack an meinen Rucksack, bezahlte noch schnell das Zimmer und den Ingwertee, den Namgel und Dorjee mir in täglichen, rauen Mengen empfohlen hatten – und startete die Navigation meines GPS-Geräts. Die Sonne schien, die Straßen waren bereits voller Menschen. Nun noch schnell eine Flasche Wasser kaufen. Aber so einfach ging dies nicht, verwickelte man mich doch direkt in ein Gespräch über meine Herkunft, mein Ziel und den Preis meines Rads. Verwundert sah man mich an, als ich mitteilte, dass ich alleine auf dem Weg zum Thorong La-Pass sei. Dies musste so manchem Nepalesen exotisch vorkommen. Und hier kam ich auch zum ersten Mal auf dieser Reise in eine moralische Zwickmühle. Einerseits zeigte man ehrliches, jungfräuliches Interesse an den Kosten meines Sportgeräts, andererseits jedoch stellte sich mir binnen Sekundenbruchteilen die Frage, was ein Nepalese wohl davon halten möge, wenn ich ihm sage, dass mein Fahrrad mit seinen wenigen Modifikationen rund 500.000 Rupien, also ca. 3900 EUR wert sei. Zum Vergleich: Der Preis für ein Zimmer für die Nacht inklusive Toilette und Dusche war in den meisten Lodges 300 NPR, etwa 2,40 EUR. Wie würde man wohl darüber denken? Was würde es über mich selbst aussagen und was über das Leben der Nepali, aber auch der Mitteleuropäer? Oder machte ich mir sowieso nur zuviele westliche Gedanken, die die Einheimischen nie derart haben würden?

Die Flasche war nun verstaut, und ich schwang mich auf mein Rad. So einige Augenpaare folgten mir, während ich die ersten Pedalbewegungen machte. Vor allem die Kinderaugen musterten wieder das nicht ganz alltägliche Schauspiel. Von allen Seiten ertönte das obligatorische „Namaste!“, das mich während der gesamten Reise begleiten sollte. Die erste Kurve führte direkt mit Schuss hinab in die Außenbezirke des Orts, vielmehr direkt in das Ghetto. Ich hielt hier zum ersten Mal an, um die Kamera herauszuholen und die morgendliche Natur im Bild festzuhalten. Die Straße war einem groben, holprigen Schotterweg gewichen, der alsbald in eine reine Sandstraße überging. Fahren war hier kaum noch möglich, stieg die Straße nun auch noch steil an. Im ersten Gang kam ich so gerade noch vom Fleck und erklomm die ersten Höhenmeter. Es dauerte gewiss keine 20 Minuten, bis der Schweiß in Massen von der Stirn tropfte. Die Hitze und enorme Luftfeuchte gepaart mit der sandig-steilen Straße forderten mir alles ab. Die ersten kleinen Siedlungen passierte ich dennoch mit interessiertem Blick. Faszinierend und gleichzeitig nachdenklich stimmend, wie die Zeit hier stehengeblieben zu sein schien. Schließlich erreichte ich den ersten Checkpoint für das Vorzeigen meines ACAP und der TIMS-Card. Einmal anhalten und die wichtigen Dokumente aus dem Rucksack zücken.

Über die nächsten Stunden fuhr ich immer weiter hinauf durch das Marsyangdi-Tal, passierte dabei zahlreiche kleinere Dörfer. Manche davon bestanden lediglich aus zwei Hütten. Ich beobachtete Frauen beim Gebet und Kinder, die alleine eine Herde von Kühen aus den Bergen hinab ins Tal trieben oder mit altem Müll spielten. Riesige Berge alter Flaschen und Dosen verunstalteten viele Ecken dieser armen Dörfer. Leider ist das Recyceln von Müll hier nicht entwickelt und der Abtransport aus den Bergen herunter zu entsprechenden Anlagen vermutlich zu kostspielig, so dass die Siedlungen hier sich selbst überlassen sind.

Die Steigungen wurden härter und der erste Gang Dauergast an meiner Kette. Was hier als Hauptverkehrsstraße galt, wäre bei uns ein abenteuerlicher Wanderweg, vollgepflastert mit dickstem Geröll. Gegen Mittag warf ich einen ersten neugierigen Blick auf meine Höhenprofilanzeige und musste dabei enttäuscht feststellen, dass ich mich nicht wie erwartet bereits auf über 1000 m befand, sondern lediglich auf 850. Ich war also trotz aller wirklich kräfteraubender Anstiege auch sehr oft wieder herabgefahren. Dies musste ich erstmal verdauen. Dabei half mir die zauberhafte, stets mit vielen abwechslungsreichen Motiven aufwartende Natur. Weiter unten rauschte der Marsyangdi, hier oben sangen die Vögel im Blätterwerk der subtropischen Vegetation.

In der Mittagszeit führte mich meine Route ebenfalls auch durch den Ort Bhulbhule. Direkt am Ortseingang rief mir ein kleines Mädchen zu: „Where you from?“, worauf ich „From Germany!“ antwortete. Die Worte waren keine Sekunde ausgesprochen, da tönte es bereits zurück: „Gimme chocolate!“ Kaum hatte ich darüber herzlich gelacht, blieb mir dieses Lachen auch schon im Halse stecken, denn das ganze Dorf war nun unter einer Wolke aus Rauch gefangen, der aus den Schornsteinen der kleinen Hütten emporklomm. Dass das Thema Rauchabzug in Nepal ein besonders großes war, wusste ich bereits, aber dass es derart zwingend war, hatte ich nicht erwartet. Was für eine immense Steigerung der Lebensqualität muss für diese Menschen ein Rauchabzug sein. Die Arbeit verschiedener Hilfsorganisationen, die Projekte zur Installation von Rauchabzügen betreiben, ist, das wurde mir hier besonders bildhaft, gar nicht hoch genug zu schätzen.

Am Nachmittag zog sich der Himmel zu. Regen kündigte sich an. Die Jeeproad war so steil geworden, dass ein Fahren nicht mehr möglich war, auch nicht im ersten Gang und unter heftigstem Reißen. Die Felsstücke und großen Steine ließen kein Weiterkommen zu. Ich musste schieben – Kilometer um Kilometer. In einem Dorf gönnte ich mir eine FANTA in einem Bistro und quasselte einige Minuten mit der Besitzerin und ihrer Freundin. Einmal mehr wurde ich gefragt, wo ich herkomme, hinfahre und was mein Rad koste. Aber das war ich ja mittlerweile schon fast gewohnt. Auch hier war man ausgesprochen freundlich und offen zu mir, allerdings ebenfalls wieder überrascht ob meines Reiseziels. In Syange begann es schließlich stark zu regnen. Umso glücklicher war ich, dass ich zu diesem Zeitpunkt bereits 32 grausige Kilometer zurückgelegt hatte und nach unzähligen Aufs und Abs doch noch auf immerhin 1110 m angelangt war. So unbeeindruckend sich diese Zahlen lesen, so deutlicher wurde mir später bewusst, welche Ausnahme Tagesstrecken wie diese im nepalesischen Hochgebirge darstellen. Von 32 Kilometern sollte ich an so manchem Tag noch träumen!

Am „Hotel Blue Sky“ angekommen, machte ich einen Raum klar und bat dann um einen Wasserschlauch, um das Rad ein wenig von den Schlammmassen befreien zu können, die sich über die letzten Stunden des Fahrens durch das feuchte, an vielen Stellen noch tiefmatschige Tal verfangen und festgesetzt hatten. Während man mir einen Teller gebratener Nudeln zubereitete, brachte ich mein Gepäck zum Zimmer und inspizierte das Bad. Hier hatte ich nun keine westliche Toilette mehr, sondern stattdessen ein Loch im Boden – direkt neben dem Duschhahn, der lediglich aus der Wand hervorstand. Wenn ich mich also am nächsten Morgen meinen „Geschäften“ widmen würde, müsste ich besonders bedacht vorgehen, so sagte ich mir, um sauberen Fußes wieder die Dusche verlassen zu können. Ich genoss dennoch meine Nudeln und saß dann für mehrere Stunden alleine im Restaurantteil des Hotels. Dabei schaute ich meine Fotos des Tages durch und ließ meinen Blick über den vorbeifließenden Marsyangdi gleiten. Dieser war derart laut, dass ich froh war, meine Fenster im Zimmer nachts nicht öffnen zu müssen; immerhin war es frisch genug geworden, um frühzeitig lüften zu können. Für die Nacht breitete ich meinen Schlafsack auf der Pritsche aus und bedeckte ihn zusätzlich mit einem der feucht-modrig duftenden Bettdecken. Wählerisch durfte ich hier nicht sein, denn dafür war es eindeutig zu kalt. Da mit etwas Gefummel auch noch mein deutsches Ladekabel für das iPad Kontakt bekam, war eigentlich alles bestens. Meine erste Nacht im Himalaya brach herein…

Der zweite Tag meiner eigentlichen Fahrt begann nach dem Frühstück – tibetisches Brot und Ingwertee - wie der erste mit heiterem Wetter und ebenfalls mit einer ersten abschüssigen Kurve. Etwa 150 Meter war ich gefahren, als die felsigen Serpentinen begannen und sich in martialischer Steigung für mehrere Kilometer nach oben wanden. Für längere Zeit war nun wieder Schieben angesagt. Hier begann ich bereits, mir mein Tempo anzueignen. Und es war ein verdammt langsames. Nur so konnte ich sicherstellen, mich nicht zu überanstrengen und vor allem mich an die zunehmende Höhe zu gewöhnen, dabei auch ein Auge für die atemberaubende Natur zu behalten, für die ich ja schließlich hergereist war.

Kurz vor Mittag traf ich einen Trekker, der mich mit schnellem Schritt eingeholt hatte. Mit dickem Kopfhörer auf den Ohren und Blick meist gen Boden jagte Keith aus Neuseeland über die staubige Straße. Wir gingen einige hundert Meter gemeinsam, bis es wieder bergab ging und ich ihm vorerst noch eine schöne Wanderung wünschte. Eine halbe Stunde später kam ich nach Jagat auf 1300 m an. Hier kehrte ich für mein Mittagessen, gebratene Nudeln und Knoblauchsuppe, die mir ebenfalls zum täglichen Konsum empfohlen worden war, ein. Es dauerte nicht lange, da kam Keith wieder an mir vorbei und wünschte mir guten Appetit. Auch die ersten anderen Reisenden traf ich erst hier. Es war eine Gruppe aus Deutschen und Österreichern, die sich mit dem Jeep bis nach Jagat hatten fahren lassen. Bis dato war ich der einzige Reisende auf dieser Route gewesen.

Nach dem Mittagessen folgten zehrende Stunden des steilen Aufstiegs. Entspannendes Rollen in der Ebene oder nur leichte Steigungen wurden immer seltener. Bei der Ankunft im Distrikt Manang flößte mir der Anblick der sich steil an der Felswand entlangschlängelnden Jeeproad enormen Respekt ein. DA sollte ich nun noch weiter hoch? Wieviele Stunden würde das wohl noch dauern? Immerhin wurde der Himmel mal wieder grauer und es tröpfelte ganz leicht. Auch mein Körper war von dem beschwerlichen Wandern über felsigen Untergrund mitsamt einem beladenen Rad ausgepowert. Der Sinn für die Schönheit der Natur begann so langsam zu schwinden und ein buntes Konglomerat aus kreativen Schimpfwörtern floss mir still über die Lippen. Gegen 17:30 Uhr erreichte ich dann endlich den Ort Tal, passenderweise im Tal gelegen, direkt am Marsyangdi auf 1680 m. Ich erkundete noch ein wenig die Umgebung, bevor ich mir auch hier eine Lodge suchte. Als mich die Dame zu meinem Zimmer führte, ging die Tür des Nachbarraums auf und heraus trat mit freudigem Gruß mein Trekkingkollege Keith. Was ein Zufall! Er schwärmte bereits von der Warmwasserdusche – ich würde es eher lauwarm nennen -, und wir verabredeten uns zum gemeinsamen Abendessen vorne im Restaurantbereich. Auch hier kostete das Zimmer kaum mehr als umgerechnet 2,50-3,00 EUR. Dafür nahm man traditionellerweise das Essen im gleichen Hause ein. Also hieß es einmal mehr für mich Ingwertee und gebratene Nudeln.

Die Nacht stellte sich als erstaunlich frisch heraus, und auch der Morgen in Flussnähe war nicht wirklich warm, zog doch der Wind mit Nachdruck durch diese Schlucht. Also fuhr ich nach meinem Frühstück, bestehend aus tibetischem Brot und Ingwertee, schnell wieder auf die Jeeproad hoch und weiter durch die hier oben direkt einstrahlende Sonne. Das tat gut. Der folgende Abschnitt bis Dharapani sollte der angenehmste des Tages werden. Der Boden war weitgehend gut befahrbar, zumindest im Vergleich zum bisher Gebotenen. Es rollte, und nur das zählte heute. Zwischendurch musste ich die schönsten Eindrücke des Marsyangdi unter mir in der Schlucht festhalten. Jetzt hatte ich auch wieder mehr Sinn dafür. In Dharapani nahm ich meine mittlerweile schon übliche Kombination aus Knoblauchsuppe und gebratenen Nudeln zu mir. Dabei studierte ich die Karte. Würde ich es heute bis nach Chame auf 2650 m schaffen? Dorjee hatte gemeint, dass dies möglich sei. Dies schien mir mit einem vollgepackten Mountainbike doch irgendwie etwas zu optimistisch.

Nach dem Essen hielt ich am nächsten Checkpoint am Ortsausgang. Einmal wieder ACAP und TIMS-Card vorzeigen und die üblichen Fragen nach meiner Herkunft und meinem Ziel beantworten. Jetzt wurde es deutlich steiler und wieder verblockter. Auch graute der Himmel einmal mehr zum Nachmittag hin ein. Als ich den Ort Bagarchhap erreichte, hatte ich für den Tag eigentlich bereits genug. Auch heute hatte es wieder vielzuviele Schiebeabschnitte gegeben. Chame schien mir einer weiteren Tagesstrecke gleichzukommen. Ich beschloss, im nächsten Ort ein Zimmer zu suchen.

Bis dahin sollte mir aber nochmal der Puls hochgehen. Als ich das traurige, fast schon verlassen wirkende Bagarchhap hinter mir gelassen hatte und auf eine Kuppe zusteuerte, stieg vor mir aus der Tiefe ein riesiger Geier empor und hielt direkt auf mich zu. Wenige Sekunden später gesellten sich ein Dutzend seiner Kollegen zu ihm. Sie alle kamen aus der Senke hinauf – Anblick, der mir doch etwas zu denken gab, immerhin hatten diese Tiere eine Flügelspannweite von bestimmt 2,50 m, und sie flogen direkt über meinem Kopf im Abstand von vielleicht fünf Metern. Hier wurde mir wieder vor Augen geführt, wie wenig wir Mitteleuropäer doch an echte Wildnis gewohnt sind. Da war ich nun: Alleine mit mir selbst im wilden, regnerischen Himalaya, allen Annehmlichkeiten der Heimat entsagend – klein und doch irgendwie unbedeutend.

In Danakyu suchte ich mir ein Zimmer. Der Ort war mir nicht wirklich sympathisch. Die Lodges wirkten weitaus weniger liebevoll gestaltet und ausgestattet als in Tal. Mit meinem Zimmer hatte ich dann leider Pech. Im Bad fehlte ein Fenster und ein Fenster über meinem Kopfende am Bett hatte ebenfalls keine Scheibe. Man hatte versucht, dort mit Klebeband Abhilfe zu schaffen. Leider war dieses schon nicht mehr fest. Hier war ich dann heilfroh, einige Tage zuvor doch eine Rolle Klebeband in Kathmandu gekauft zu haben. Schnell zückte ich die Rolle und klebte den Fensterrahmen von innen und außen frisch zu. Die Spinnen im Bad ignorierte ich und die hinter dem Bett, nunja, die musste ich wohl hinnehmen. Eine Dusche und ein Handtuch wollte ich mir nun organisieren, zumal ich schon merkte, wie kalt es hier oben auf 2220 m bereits am späten Nachmittag war. Ich musste meinen Körper schnell vom Schweiß befreien und in trockene Sachen hüpfen. Der Besitzer der Lodge bot mir eins seiner eigenen Handtücher an. Es hing an der Wäscheleine, aber fiel mir vor allem durch die riesigen braunen Flecken auf. Ich war doch etwas unschlüssig, was ich davon halten solle. Letztlich nahm ich mir ein anderes Handtuch, welches daneben hing und sauber aussah. Nach der Dusche feuerte der Lodgebesitzer den Ofen im Essraum an. Zu Abend gönnte ich mir „zur Abwechslung“ einen Teller gebratener Nudeln, während ich meine durchgewaschenen Socken am Ofen trocknete.

Leider wurde der Ofen schon um 21:00 Uhr ausgemacht und die Nachtruhe suggeriert. Ich war aber weder müde noch wollte ich schon in das kaltfeuchte Zimmer. Aber so musste ich mich den Hausregeln fügen und verschwand in meinem Gemach, wo ich mich samt aller Klamotten in den Schlafsack und unter die dicke Decke legte. Während ich im Bett lag und die Spinnen hinter meinen Kopf zu ignorieren versuchte, was mir mit einer kleinen Prise Selbstironie erstaunlich gut gelang, musste ich an Keith denken. War er wirklich noch bis nach Chame durchgewandert? Täuschten mich mein gesunder Menschenverstand und mein Kartenverständnis bzw. die Karte selbst so sehr? War ich heute vielleicht zu früh eingekehrt? Die Gewissheit, dass ein langsamerer Aufstieg nur zu meiner besseren Akklimatisation beitragen könne, ließ mich dann ruhig einschlafen.

Der Morgen des 22. Februar war geprägt von dichtem Nebel, welcher der Umgebung eine gespenstige Atmosphäre verlieh. Ich nahm mein tibetisches Brot und meinen Ingwertee zu mir und machte mich auf den Weg nach Chame. Daheim noch hatte ich geplant, aber 2000 m einen ersten Akklimatisationstag einzufügen, um auch wirklich absolut auf Nummer Sicher zu gehen, aber das schreckliche Zimmer und das feuchte Wetter trieben mich weiter. Selbst Dorjee hatte einige Tage zuvor gesagt, dass er die Talregion nicht so sehr möge und die höheren Lagen vorziehe. Dem konnte ich heute voll zustimmen. Nicht dass die Umgebung nicht traumhaft gewesen wäre, aber der Verzicht auf eine trockene Unterkunft war einfach nicht vereinbar mit dem Verharren an Ort und Stelle.

So vertraute ich meinem Instinkt und der Tatsache, dass ich auch bis jetzt mit viel Ruhe gut gereist war und nahm die kommenden Stunden des Anstiegs mal im Sattel sitzend und mal schiebend aufgrund der Steigung und des Untergrunds, aber stets mit totaler Ruhe. Die Umgebung gestaltete sich heute besonders eindrucksvoll: zwar sehr feucht, aber dennoch mit interessanten Felsformationen und Wasserfällen durchsetzt. Unterwegs traf ich neue Leute, ein Pärchen aus den USA, Curtis und Nicole. Zusammen gingen wir weiter Richtung Timang (2640 m). Wir kamen schließlich an einen Zufluss des Marsyangdi, den es zu überqueren galt. Schwere Felsbrocken lagen zu einer Kette formiert beisammen und gaben den einzig möglichen Weg vor. Ein Durchwaten des Wassers war aufgrund der Tiefe und der Temperatur nicht möglich. So verfolgten die Trekker mit einiger Spannung meine Anstalten, die Felsen mitsamt meinem Mountainbike zu überqueren. Die Oberfläche war nass und glitschig. Beim Sturz hätte man sich durchaus etwas brechen können. Also galt es, Vorsicht walten zu lassen. Nur wenn der Fuß ganz sicher und fest stand, wurde das Gewicht umgelagert. Nach etwa fünf Minuten hatte ich die andere Seite erreicht. Ein kleiner Applaus war mir sicher.

Timang angekommen trafen und aßen wir mit anderen Trekkern, u.a. aus Deutschland und Australien. Gebratene Nudeln konnte ich jetzt direkt wieder gut verwerten. Anschließend begann der angenehmere Teil des Tages. Auch wenn dieser noch einige Anstiege für mich bereithielt, so waren die meisten Abschnitte entweder flach und schnell oder sogar auch mal abschüssig. In jedem Fall aber änderten sich langsam das Klima sowie auch die Vegetation. Nun war ich im hochalpinen Gelände angekommen, trockener war die Luft, Nadelwälder bestimmten die Szenerie.

Gegen Spätnachmittag kam ich in Chame auf 2660 m an. Hier kaufte ich mir eine weitere lange Hose sowie ein Handtuch. Leider konnte ich letzteres nicht mehr waschen, da das Wetter wie auch mein Raum trotz der nun klareren Luft immer noch zu feucht waren und es vor allem derart kalt wurde, dass es vermutlich nicht mehr rechtezeitig getrocknet wäre. Aporpos Kälte: Auch in Chame hatte ich wieder die Ehre, ein Bad mit einer unverglasten Rückwand zu haben. Hier gab es nicht einmal einen Fensterrahmen. Das Bad war nach hinten schlichtweg offen. So konnte ich beim Duschen der Familie beim Arbeiten im Stall zusehen, wenn ich so wollte. So zog es einmal mehr durch den ganzen Schlafraum, denn auch die Zimmer der besser gestalteten Lodges im Himalaya sind in keiner Weise isoliert. Der Wind pfeift an den Fensterrahmen herein oder unter der Tür durch. Ich hatte kein Thermometer dabei, aber ich schätze die Temperatur bei Ankunft am Spätnachmittag auf zwei bis drei Grad unter Null, während der Nacht locker auf -10° bis -15°. Entsprechend quälte ich mich durch die Nacht, nachdem ich des Abends noch für einige Stunden mit der Großfamilie am Ofen gesessen und zu meinen gebratenen Nudeln etwa zehn Tassen Ingwertee getrunken hatte. Und noch etwas anderes gestaltete sich nun immer schwieriger: Die Verbindung zur Außenwelt. Meine Internetverbindung konnte man kaum noch als solche bezeichnen. Meiner Familie schrieb ich, dass sie vermutlich bald abbrechen würde und dass man mir bereits mitgeteilt habe, dass es aktuell im ganzen Tal Probleme mit der Elektrizität gäbe. Ich bat sie darum, die Ruhe zu bewahren, sollte ich mich für einige Tage nicht mehr melden.

Den nächsten Tag hatte ich mir während meiner Vorbereitungen als sicheren Akklimatisationstag eingeplant, da die Höhenkrankheit unabhängig von der persönlichen Fitness bereits ab 2500 m zuschlagen kann. Die extreme Kälte und Feuchtigkeit Chames jedoch bewogen mich einmal mehr zum Aufbrechen, obwohl ich für eine Sekunde oder zwei leichteste Benommenheit verspürte. Da diese aber direkt verschwand und sowieso nur latent zu spüren war, versuchte ich mein Glück und machte mich auf den Weg nach Lower Pisang (3200 m). Die strahlende Sonne und angenehme Wärme des Vormittags ließen mich direkt wieder gute Stimmung bekommen und mich wohlfühlen. Der Sonne entgegen lautete heute die Devise.

Die Strecke war zum größten Teil fahrbar, kleinere Teile zwangen wieder zum Schieben. Ab Bratang (2900 m) wurde das Wetter langsam wieder schlechter. Ab ca. 3040 m Schnee lag Schnee. Kurz vor Dhikur Pokhari kam es dann zu einer kuriosen Situation. Das Dickicht der Wälder schien mir bereits seit Minuten verdächtig undurchdringlich und düster. Ich fuhr nun auf eine ausgesprochen finster wirkende Kurve zu. Kurz davor hörte ich ein lautes Röcheln, das sich wiederholte und desto öfter aufkam, je näher ich der Kurve kam. Dies war mir nicht ganz geheuer. Um welches Tier konnte es sich handeln? Und wo war es? War es ein Bär? Ein Hirsch? Ein Wildschwein? Ich wich ungefähr fünfzehn Meter zurück und wartete ab, zückte für alle Fälle schonmal meinen Fotoapparat. Es tat sich nichts mehr. Ich wartete einige Minuten ab und hoffte, dass einer der unzähligen Jeeps vorbeikäme, der mich um die Kurve begleiten könnte. Leider kam genau jetzt niemand hier vorbei, ausgerechnet in dem einen Moment während meiner gesamten Reise, in dem ich Begleitung hätte brauchen können. Ich unternahm einen zweiten Versuch und fuhr wieder auf die Kurve zu. Kaum war ich in der Nähe der Biegung, ertönte wieder das unheilvolle Geraune, das mich erneut zurückzwang. Immer noch kein Jeep. Jetzt wurde es sehr düster. Der Himmel wurde schwarz, und ich wollte das Ziel erreichen. Ich nahm einen Stein vom Boden auf und warf ihn in Richtung der Kurve, hoffend, damit das Tier aufscheuchen und identifizieren oder im Bestfall sogar vertreiben zu können. Wieder tat sich nichts. Auch ein zweiter Wurf führte zu keiner Änderung der Situation. Da endlich hörte ich Motorengeräusche. Ein Motorradfahrer kam um die Ecke. Ich hielt ihn an und fragte, ob er mich um die Kurve begleiten könne, was er zum Glück gerne tat. Sobald ich diese obskure Stelle hinter mir gelassen hatte, hielt mich nichts mehr auf. Nun fuhr ich schnellstmöglich nach Dhikur Pokhari, wo ich eine Knoblauchsuppe zu mir nahm und dann meine Reise nach Lower Pisang fortsetzte. Die Strecke ab Dhikur Pokhari war die vielleicht bis dahin interessanteste, fahrradtechnisch am besten zu meisternde. Das Rad rollte schnell und problemlos, auch das Wetter wurde wieder freundlicher. Als ich in Lower Pisang ankam, stand die Abendsonne am Himmel und tauchte die über dem Ort stehenden Stupas mitsamt der dazwischen kunstvoll angeordneten Manitafeln in ein zauberhaftes Licht. Dieser Moment war sicherlich der bis jetzt schönste meiner Reise. So hatte ich mir das immer vorgestellt. Umso enttäuschter war ich schließlich von dem doch eher verarmt wirkenden Lower Pisang und seinen heruntergekommen Lodges. Nichtsdestotrotz fand ich hier die vielleicht sauberste Toilette, sogar wieder westlicher Art, meiner Himalayafahrt vor. Die gebratenen Nudeln und der Ingwertee schmeckten mir an diesem Abend besonders hervorragend, wusste ich doch jetzt, dass ich schon ziemlich weit gekommen war und keine Anzeichen der Höhenkrankheit verspürte. Ich begann erstmals, meine Reise voll zu genießen und eine innere Zufriedenheit zu verspüren. Die Luft war endlich sauber und auch das Zimmer wirkte weniger kalt als das in Chame. Am Ofen wärmte ich mich, während ich meine Fotos begutachtete und auch der ausfallende Storm, der mich zur Nutzung meiner Stirnlampe zwang, konnte mir nicht die Stimmung vermiesen. So gut in der Zeit zu liegen und zu wissen, dass der nächste Tag einen Höhenunterschied von lediglich 350 Höhenmetern mit sich bringen würde, erfüllte mich mit besonderer Zuversicht. Der einzige Wehrmutstropfen war, dass ich nun absolut keine Internetverbindung mehr hatte. Ich konnte mich also weder bei meiner Familie melden noch meinen Blog pflegen, auf dem ich die letzten Tage über regelmäßig über meine Reise berichtet hatte.

Nach dem üblichen Frühstück machte ich mich am Morgen auf den Weg. Die Sonne schien, und ich machte direkt wieder an den Stupas und Manimauern oberhalb Lower Pisangs halt. Hier wollte ich mir einmal besonders viel Zeit für Fotos und Videos nehmen. Soviel Zeit musste und konnte heute sein. Nun war man den Bergriesen auch deutlich näher. Vor allem ab Humde (3400 m) war der Blick endlich frei auf die nördliche Annapurna-Flanke mit ihren Gipfeln der Annapurna II, Annapurna III und der Gangapurna. Man konnte die Gletscher sehen und mit ihnen auch das faszinierende Licht, in das sie ganz oben gehüllt sind. Fast hätte man glauben können, dass ob sie einen Heiligenschein tragen würden, so sehr schimmerten sie. In diesen Minuten konnte ich sehr gut verstehen, wie diese Berge zu ihrer geradezu gottgleichen Verehrung kommen konnten. Dieses Gletscherlicht musste schon sehr früh die Menschen beeindruckt und zum Nachdenken bewogen haben.

Am Nachmittag kam ich rechtzeitig in Manang auf etwa 3550 m an. Die Gegend war nun komplett karg, irgendwie unwirklich, aber dadurch auch sehr beeindruckend. Vor den Toren der Stadt floss ein Bach zwischen den Geröllfeldern, an dessen Ufern sich ein geschätztes Dutzend Steinarbeiter ihrer harten Arbeit widmeten. Es ist schon ein bedrückendes Gefühl, wenn man als Europäer freiwillig mit seinem teuren Sportgerät hierher kommt, sich selbst und seine Strapazen als sehr zentral empfindet und dann einer vielleicht 28-jährigen Frau, die aufgrund des Lebens hier oben aber bereits wie 58 aussieht und ein Baby auf dem Rücken trägt, dabei zusieht, wie sie genauso hart wie die Männer über Stunden auf dicke Steinblöcke einschlägt. Ich schaute den Arbeitern eine Zeit lang zu und fuhr dann hineinin nach Manang. Hier ging es direkt zum nächsten Checkpoint, bevor ich mir ein Hotel suchte. Ich stieg ab im „Tilicho Hotel“, das, wie sich herausstellte, wohl der Hotspot schlechthin war. Leider hatte man auch hier keine Chance auf eine Internetverbindung. Dies sollte sich für die kommenden Tage bis zur Passüberquerung auch nicht mehr ändern. Dafür traf ich auf dutzende Trekker aus aller Welt. Auch manche bekannte Gesichter befanden sich darunter. Nur einen konnte ich nicht finden: Keith.  War er etwa schon soviel weiter als ich gekommen? In den kommenden Stunden und auch am nächsten Tag sprach man mit vielen unterschiedlichen Menschen, und einige davon konnten sich auch an Keith erinnern. Niemand aber hatte ihn nochmal gesehen. Keiner wusste, wo er sich befand. War er wirklich schon jetzt hinter dem Pass, wo andere durchaus zügig gehende Trekker, die ihn auch kennengelernt hatten, erst in Manang angekommen waren? Oder war ihm in der Zwischenzeit etwas zugestoßen? Niemand sollte es noch herausfinden.
Am Abend kam es zu einem Schneesturm, der die ganze Umgebung in ein weißes Kleid hüllte.
Hier oben wurde wieder deutlich, wie vorsichtig man sich in dieser gnadenlosen Gegend verhalten und vortasten sollte. Und noch etwas anderes wurde mir vor Augen geführt: Das Reisen in Gruppen ist nicht immer so sicher und sinnvoll, wie es propagiert wird. Im Gegenteil: Eine Gruppe aus zwei Deutschen, einer Amerikanerin und einem Kanadier, seines Zeichens selbst Trekkingguide, machte sich am kommenden Tag, den wir zur Akklimatisation nutzten, auf zu einer Gompa, einem Kloster, auf über 4000 m. Ich selbst begnügte mich an diesem Tag mit einem Aufstieg zu einem Stupa auf etwa 3700 m, bei dem ich wieder den Steinburch vor der Stadt passierte und den armen Arbeitern bei ihrer Schufterei zusah. Auch diese verhältnismäßig überschaubre Mittagswanderung war für mich als Quasi-Spaziergänger ohne Stöcke schon durchaus nicht einfach. Der Pfad hinauf war staubig, kaum breiter als meine Hüfte und fiel zu den Hangseiten hin ab. Für einen leicht von der Höhenangst Geplagten wie mich bedeutete dies schon eine kleinere Mutprobe. Als wir uns abends wieder im Hotel trafen, erfuhr ich, dass der kanadische Trekkingguide die Höhe nicht vertragen hatte und nun flach lag. Man hatte sich vielleicht etwas zuviel zugemutet. Und noch mehr Unvernunft musste ich bezeugen. Teile seiner Gruppe sprachen gerne und lautstark von ihrer sinnvollen Einnahme des Wirkstoffs Diamox, der seit Dekaden prophylaktisch von Bergsteigern aus aller Welt eingenommen wird, um nicht höhenkrank zu werden. Das Problem dabei ist, dass Diamox lediglich die Symptome verschleiert, nicht aber die Höhenkrankheit bekämpft. Daher sollte man es auch allerhöchstens nur dann einnehmen, wenn man sich direkt unterhalb eines Gipfels oder Passes befindet, den man zu erreichen trachtet. Schon gar nicht über mehrere Tage sollte man Diamox nutzen. In der Apotheke meiner Wahl, in welcher ich mich vor Reiseantritt aufklären ließ, erklärte man mir sogar, dass Diamox nur bei Glaukompatienten angezeigt wäre. Die einzig sinnvolle Höhenakklimatisation ist der sanfte und nicht überfordernde Aufstieg.
Ich lernte an diesem Abend auch noch einen anderen zukünftigen Gefährten kennen: Blaž aus Slowenien. Er war ebenfalls alleine unterwegs und wollte am kommenden Morgen weiter. An diesem Tag hatte er wohl Anzeichen der Höhenkrankheit gezeigt und daher schlug ich ihm vor, dass ich am nächsten Morgen zusammen mit ihm aufbrechen würde. Auch ich wollte nicht noch länger in diesem Hotel verweilen, in dem dutzende Halbwissende ihre zweifelhaften und teilweise gefährlichen Messages weitergaben. Am kommenden Morgen verabredeten wir uns beim Frühstück für einen Aufbruch um 10:00 Uhr.

Als ich ausgecheckt hatte und vor der Tür auf Blaž wartete, kam dieser zu mir und teilte mir mit, dass er nicht mitkommen könne, weil es ihm nicht gut gehe. Auch der kanadische Trekkingguide lag vollkommen fertig auf einem Sofa und wünschte mir alles Gute auf meiner weiteren Fahrt. Er selbst wisse noch nicht, ob er weiter könne. Eine ganze Reihe Wanderer hatten sich am Tag zuvor beim Versuch, ihren geschundenen Körpern doch mal wieder ein üppigeres Mahl, etwa eine Pizza oder ein Thunfisch/Tomaten-Sandwich zu gönnen, den Magen verdorben. Auch ein dritter Bekannter, der sich per Jeep direkt nach Manang hatte hochfahren lassen, musste aufgrund mangelnder Akklimatisation abbrechen und wurde mit einem weiteren Jeep wieder herabtransportiert.

Ich selbst versuchte dann auf eigene Faust den Aufstieg nach Yak Kharka auf 4050 m. Die Höhendifferenz von 500 Metern machte mir etwas Sorgen, zumal man ab 3000 Metern nicht mehr als 300-500 Metern pro Tag machen soll und ich in Manang eigentlich sowieso lieber zwei Tage verweilt wäre. Dazu kam, dass ich bei der Ankunft in Manang ein leichtes Benommenheitsgefühl gehabt hatte, zwar noch nicht stark, aber dennoch spürbarer als in Chame. Ich sagte mir daher, dass ich im Notfall wieder umkehren und den Tag als weiteren Akklimatisationstag werten könne. In einem solchen Fall müsste ich eben wieder einchecken. Nun wüsste ich ja auch, wo.

Ich hatte mir am Abend zuvor noch ein Paar billigster Steigeisen, besser gesagt Grödel, gekauft sowie eine Skibrille, um vor dem grellen Sonnenlicht in den hohen Lagen, dass durch die Schneemassen aggressiv reflektiert wird, geschützt zu sein. Mit der Brille im Gesicht, die eine angenehme Wärme spendete, hatte ich ein gutes Körpergefühl und ging langsam los. Der Schnee war zum Teil liegengeblieben. Der Aufstieg nach Yak Kharka jedoch sollte heftig werden. Bis nach Ghusang auf 3950 m ging es ausschließlich im ersten Gang und schiebend vorwärts. Die Sonne brannte von der Seite auf meinen Hals und mein Gesicht. Dennoch war die lange Hose erstmals ganztägig an meinem Körper. In Ghusang nahm ich eine Knoblauchsuppe zu mir. Mir ging es nicht schlecht, aber irgendwie fühlte ich mich schlapp. Ich spürte, ich müsse nun aufpassen. Leider besteht Ghusang nur aus zwei Hotels, von einem Ort zu sprechen, ist also sehr vollmundig. Ich fuhr dann weiter nach Yak Kharka. Der Weg wurde fahrbarer, teilweise konnte man hier endlich einem „Trail“ sprechen. Im Abendlicht auf 4000 Metern an einem Hang im Himalaya entlang zu fahren, ist schon ein außergewöhnliches Erlebnis. Ob es die unglaublichen Strapazen wert ist, die man über viele in Kauf nehmen muss, um erstmal auf diese Höhe zu kommen, muss jeder für sich selbst entscheiden oder herausfinden. In diesem Moment jedenfalls schien es mir das wert gewesen zu sein.

Kurz vor Yak Kharka kamen mir zwei weitere Bekannte entgegen, ein Pärchen aus Deutschland, das schon einen Tag länger als ich in Manang gewesen war. Die beiden waren in Eile und wurden von einem Guide nach Manang zurück begleitet, weil sie die Höhenkrankheit in Yak Kharka erwischt hatte. Kreidebleich und schwankendes Gangs manövrierte die Arme in Begleitung der Männer den ganzen Weg zurück. Alle diese Wanderer waren über Tage viel schneller aufgestiegen als ich, hatten ein höheres Tempo angeschlagen. Wurde ihnen das hier nun zum Verhängnis? Die Antwort lautete offenbar
„ja“.
In Yak Kharka kam ich gegen 17:00 Uhr an. Die Temperatur in dieser schattigen Siedlung war grausam kalt. Die Besitzer der Lodge, die ich mir aussuchte, sahen das augenscheinlich anders und ließen permanent die Tür offen. Auch meinen Ingwertee brachte man erst eine halbe Stunde nach Bestellung. Abends hatte man dann ein Nachsehen mit mir und feuerte den Ofen an, in den man einen ganzen Baumstumpf am Stück drückte, während man die Klappe offen ließ. Welch' ein Traum, bei komplett verrauchter Luft, die in den Augen brennt und in den Atemwegen beißt, seine Nudeln zu essen. Aber die Kälte lässt einen alles andere vergessen und so saß ich bis ca. 23:00 Uhr noch mit den Karten spielenden Männern in ihrer Lodge, ehe ich mich in mein Zimmer verzog, in dem deutlich zweistellige Minusgrade herrschten. Ich verkoch mich in meinem Schlafsack und ließ dabei wieder alle Schichten am Leib, auch meine Mütze und die Kapuzen des Pullis und meiner Jacke.

Am nächsten Morgen verspürte ich ein leichtes Gewummere im Kopf. Der Körper arbeitete hier oben einfach stark. Man merkte, es ist noch alles in Ordnung, aber man muss nun ganz besonders vorsichtig weitermachen. Und so nahm ich mir lediglich vor, nach Ledar zu gehen, dass auf 4200 Metern liegt. Genau dies tat ich mit aller Gelassenheit. Dort nahm ich die übliche Suppe zu mir und setzte mich für einige Stunden auf die Terrasse, wo ich die imposante Bergwelt beobachtete und wie sie langsam vom Abendrot eingefärbt wurde. Als es langsam dunkel wurde, kam zwei Trekker an, Alexander aus Österreich und Jean-David aus Frankreich. Die beiden waren schon mehrere Tage gemeinsam unterwegs. Wir hatten einen tollen Abend in der Lodge und genossen die Zeit am Ofen und beim Abendessen - ich dabei mal wieder mit meinen Nudeln, sie mit Dal Bhat. Auch sie fanden mein Vorhaben, mit dem Mountainbike über den Pass zu fahren, ausgesprochen abenteuerlich. Aber wenn es Europäer hier hin verschlägt, so denke ich, haben sie alle das Abenteuer-Gen gemein. Vielleicht ist diese innere Zufriedenheit darüber, unterwegs zu sein und die Natur zu erkunden, auch der Grund, wieso man sich hier oben so gut mit Menschen verschiedenster Nationen versteht. Ich weiß es nicht genau, aber es funktioniert hervorragend. Was allerdings nicht besonders gut funktioniert in dieser Höhe, ist das Schlafen. Auf 4200 Metern bekam mir die Nacht nicht gut. Ich konnte kaum einschlafen, und ich wurde wiederholt wach, schnellte nach Luft jappsend aus dem Halbschlaf hoch. Lediglich in den früheren Morgenstunden konnte ich durchschlafen, aber von einem tiefen, langen Schlaf konnte absolut keine Rede sein.

Der Schlafmangel zehrte an den Kräften, während ich mich am Morgen Richtung Throrong Phedi (4500 m) aufmachte. Namgel hatte mir empfohlen, dort zu nächtigen und nicht im High Camp auf 4950 m. Dort, so hatte er gesagt, würden viele Trekker über Nacht höhenkrank. Während ich unterwegs war, beobachtete ich einen Wanderer etwas weiter unter mir in der Nähe einer Hängebrücke. Er fotografierte eine Gruppe Yaks, die gemütlich im Gras lagen oder sich daran labten. Als ich langsam zu ihm herunterfuhr, weil auch ich über diese Brücke, winkte er mir zu und schrie „Hey, Sascha!“. Es war Blaž. Zusammen machten wir uns nun auf den weiteren Weg nach Thorong Phedi, der uns verwöhnte mit grandiosen Aussichten auf die Kolosse Annapurna III und Gangapurna, aber uns auch vorbei führte an steilsten Abhängen und Steinschlagbereichen. An einem davon war zwei Tage zuvor ein Trekker erwischt worden. Er musste ins Tal abtransportiert werden. So schön diese Bergwelt auch ist, es ist immer Vorsicht geboten – zu jeder Sekunde. In Thorong Phedi trafen wir auf Alex und Jean-David. Die beiden überredeten mich dazu, mein Rad zum High Camp hinauf zu bringen, um beim Passübergang am nächsten Morgen in aller Früh nicht noch ein Rad schleppen zu müssen. An meinen Füßen hatten sich aber bereits dicke Blasen entwickelt, waren teilweise geplatzt. Ich wollte keinen Meter mehr weiter. Aber so falsch lagen die Jungs nicht. Ein Aufstieg hätte aber 750 Meter an Höhendifferenz ergeben. Das schien mir etwas riskant. Als die drei ihre Akklimatisationswanderung hinauf begannen, schloss aber auch ich mich in letzter Sekunde an. Nach drei Minuten war mir klar, dass ich diese Steilwand am nächsten Morgen weder mit noch ohne Bike nochmal würde machen wollen und können, wenn es danach auch weiter zu einem Pass auf 5416 m gehen muss. Die Drei feuerten mich an und warteten alle paar Meter. Auf halber Strecke hinauf sagte ich zu ihnen, dass ich definitiv oben schlafen würde, sollte ich dort ankommen und keine Anzeichen der Höhenkrankheit haben. Nach fast zwei Stunden im High Camp angekommen ging es mir gut. Ich teilte den anderen mit, dass sie den Schlüssel meines Zimmers in Thorong Phedi bitte zurückgeben sollten und ich oben bleiben würde. Alex hatte Kopfschmerzen. Er spürte, er musste wieder hinab. Ich genoss die klare Luft auf 4950 m und mein Dal Bhat, während ich mit anderen Trekkern aus Spanien und Neuseeland fachsimpelte. Erstaunt war man auch hier wieder darüber, dass ich alleine unterwegs war und noch dazu auf einem Rad. Man witzelte über meine Chancen einer Passüberquerung. Schließlich ging ich ins Bett und stellte mir den Wecker auf 4:30 Uhr, weil ich gehört hatte, dass die Gruppen aus Spanien und Schottland gegen 5:00 und 5:30 Uhr aufbrechen wollten. Da wollte ich nicht zu weit zurückfallen.

Der Wecker klingelte sehr früh. Eigentlich ein Grund für schlechte Laune, aber nicht heute. Schließlich beendete er meine bescheidene Nachtruhe und das ewige Jappsen nach Luft bei etwa 25 Grad unter Null. Ich zog mich zügig an und machte alles startklar. Dann trat ich hinaus in die eiskalte Luft des Morgens. Der wolkenfreie Himmel ließ ein wenig Licht hindurch, so dass die Umrisse der Umgebung, nach den Schneefällen des Winters immerhin in ein dichtes weißes Kleid gehüllt, bestens sichtbar waren. Ich schob mein Rad zum Hauptgebäude und bestellte mir lediglich eine Tasse Ingwertee. Für mehr war ich so früh noch nicht zu begeistern. Alex, Jean-David und Blaž hatten sich bereits eingefunden und tranken ebenfalls etwas. Sie mussten schon früh aufgebrochen sein. Von den anderen Gruppen schnappte ich wieder zweifelhafte Weisheiten auf. Man solle bis spätestens 9:00 Uhr den Pass erreicht haben, so die Meinungen, um vor dem täglich zu dieser Uhrzeit aufkommenden Starkwind den Abstieg angetreten zu haben. Im Jahr 2014 war es zu einem verheerenden Blizzard-Unglück gekommen, bei dem zahlreiche Menschen ihr Leben verloren hatten. Mit solchen Situationen wollte man gewiss keine Bekanntschaft machen. Umso erfreulicher war es, dass die Lodgebesitzerin in Lower Pisang mir noch versichert hatte, dass der Aufstieg zum Pass nur etwa zweieinhalb Stunden dauere. Dies beruhigte mich.

Nachdem wir unsere Tassen geleert hatten, wurde es ernst. Eine seltsame Gefühlsmischung aus Ungewissheit und Vorfreude machte sich bemerkbar und schlug sich in verhaltenem Galgenhumor nieder, der sich in mäßigen Späßen manifestierte. Endlich ging es los. Meine drei Kompagnons zogen voran, ich folgte ihnen. Um uns herum war fast nichts zu sehen, denn es war noch sehr dunkel. Lediglich die Stirnlampen spendeten uns Licht. Wir kamen an die erste Kurve. Mir blieb der Atem stehen. Der Hang fiel nun zur Rechten hin über hunderte Meter gnadenlos steil ab. Schnee soweit das Auge reichte. Links bot sich kein Halt, da der Hang diagonal frisch zugeschneit und teilweise vereist war. Der tiefe Schnee war so verhärtet, dass man sich auch nicht wirklich gut festhalten konnte. Sträucher gab es auch keine. Somit musste nun jeder kleine Schritt sitzen, denn der eigentlich etwa anderthalb Meter breite Wanderweg, der im Frühjahr oder Spätsommer vermutlich breit genug ist, war nun im Winter auf einen maximal 30 cm breiten Pfad aus Schnee und Eis zusammengeschrumpft. Da stand ich nun, latent höhenängstlich auf einem winzigen Pfad am Todeshang mit einem beladenen Mountainbike auf der Schulter. Ich rutschte weg. Schnell spürte ich, dass die Gesamtsituation binnen Sekunden grenzwertig geworden war. Während die anderen vorsichtigst den verschneiten Hang entlangtippelten und sich dabei auf ihre Stöcke verlassen konnten, die sie tief in den hüfthohen Schnee der Hangseite rammen konnten, fand ich mich mit meinem Rad auf der Schulter schnell in einer fast lebensgefährlichen Lage wieder, in der ich mir eine Schaufel herbeiwünschte, mit der ich den Pfad begehbarer hätte gestalten können. Auch zur seitlichen Absicherung wäre ein solches Utensil einem Segen gleichgekommen. Meine Füße fanden auf den vereisten, bröckeligen Stellen keinen Halt, so dass ich schnell mein Rad zur Linken in den Schnee warf, um mich daran festhalten zu können. Ich wollte wieder zurück an eine bestimmte breitere, mit einem Geländer gesicherte Stelle ganz am Anfang des Wegs, an der ich beabsichtigte, meine Grödel anzulegen. Aber ich rutschte erneut. Ich stand nun vorne übergebeugt, mich an mein Rad festklammernd, mit breit gespreizten Beinen, hinter mir den tödlichen Abgrund wissend. Meine Freunde waren schon längst nicht mehr zu sehen, die Stirnlampen irgendwo in der Dunkelheit verschwunden. Alles, was ich nun noch hörte, war ein leiser Luftzug, das Knirschen des Schnees unter meinen Füßen und mein eigenes Atmen. Es war gespenstisch. Fernab von der westlichen Welt und dem Berufsalltag, weit weg von der Familie und Freunden befand ich mich nun auf 5000 Metern im Himalaya, mir erstmals Sorgen um mein Leben machend. Das alles hatte ich mir selbst ausgesucht, selbst organisiert, selbst finanziert. Ich entschloss mich zu einem herzhaften Nachziehen meines rechten Beins. Ich konnte ja kaum ewig so weiter da stehen. Ich hatte Glück! Ich fand ausreichenden Halt und konnte mit starken Abzügen in der B-Note wieder an den Ausgangspunkt zurückmarschieren. Dort angekommen, musste ich erstmal den Schock überwinden und überlegen, was ich nun tun wolle. Ich hatte folgende Optionen: 1.) Aufgeben und zurückreisen, 2.) soviele Tage im High Camp verweilen, bis ein Teil des Schnees weggetaut wäre und  3.) einen erneuten Anlauf starten. Option 1 gefiel mir gar nicht, würde ich mir doch auf Jahre hinweg dies nicht verzeihen und eines Tages dann sowieso hierher zurückkehren, um das Versäumte nachzuholen. Auch finanziell wäre diese Option für mich lediglich ein Flopp gewesen. Option 2 schien demgegenüber schon nicht unklug, allerdings verstanden die Bediensteten des High Camps überhaupt kein Englisch und konnten mir daher über die Wetterverhältnisse der nächsten Tage keine Auskunft geben. Folglich hätte mir im schlechtesten Fall die Zeit wegrennen können, ohne dass ich dabei auch nur eine Meter weitergekommen wäre. Ich entschied daher für einen erneuten Versuch, schnallte meine Grödel um und ging entschlossen auf die fragwürdige Stelle zu. Es war nun ein wenig heller geworden und man konnte die Landschaft durch den grellen Schnee auch ohne Stirnlampe ganz gut erkennen. Mein Herz pochte, während ich den abgesicherten Bereich hinter mir ließ und sich der Weg wieder zu diesem Unterarm-breiten Band aus Schneeklumpen und Eis zusammenzog.

Doch was war das?! Etwas verheißungsvoll Aussehendes schaute auf einem zugeschneiten Geländeabsatz aus dem Schnee hervor. Beim Näherkommen konnte ich meinen Augen nicht trauen. Eine Schaufel! Ich musste lachen, herzhaft lachen. Wie das Schicksal so spielen kann! Während Milliarden Menschen unserer Zeit die Frage der Religion diskutieren und ein hoher Anteil der Weltbevölkerung sicher nicht zum Gläubigsten gehört, stand ich nun da im menschenverlassenen Himalaya auf 5000 Metern Höhe, und diese alte Schaufel lag plötzlich vor mir, genau an dieser einen Stelle in den Bergen – geradezu magisch anmutend wie das Schwert Excalibur im Stein. Gab es vielleicht doch einen Gott?

Ich griff nach diesem wunderbaren Gegenstand, den ich in dieser Sekunde für wirklich nichts in der Welt eingetauscht hätte und begann damit, den Pfad etwas auszuweiten und besonders kritische Stellen zu entschärfen. Das Rad legte ich dabei zur Seite in den Schnee. Mindestens eine volle halbe Stunde arbeite ich mir den Weg zurecht. Vielleicht war es aber auch eine Stunde. Was zählte dies hier oben auch schon? Oft musste ich dabei über mich selbst lachen, aber vielleicht war es auch die etwas nachlassende Anspannung. Als ich ausreichend Hand angelegt hatte, marschierte ich behutsam vorwärts, das Rad dabei auf der rechten Schulter, die Schaufel in der linken Hand, alle paar Meter in den Schnee stoßend. Schwer beladen und mich langsam vortastend überwand ich schließlich diese für mich grauenhafte Stelle am Abgrund. Mancher Trekker mag die für mich dieser Situation innewohnende Gefahr nicht nachvollziehen können, aber hier muss ich einschränkend sagen: Ohne Stöcke in beiden Händen, dafür mit einem schweren Rad als Last und in Folge dessen nicht ausbalanciert und mit einem viel zu hohen Schwerpunkt kämpfend war dies eine schlichtweg riskante Erfahrung. Die Tatsache, dass die Annapurna zwar unter Wanderern seit Dekaden beliebt ist, aber das Mountainbiking hier abgesehen von vereinzelten Radführungen kaum betrieben wird – ich war während meiner Tour der einzige Radfahrer in diesem Gebiet - und lediglich einmal pro Jahr ein Rennen, das „Yak Attack“ stattfindet, dieses jedoch im nepalesischen Spätsommer und noch dazu der Sache gemäß als abgesicherte Quasi-Gruppe, zeigt, wie unüblich eine Solo-Überquerung des Thorong La via Mountainbike im Spätwinter ist. Man macht dies eben nicht ohne Grund eher seltener. Die akute Gefahr der Höhenkrankheit, ausgesetzte vereiste Stellen am Abgrund und die Gefahr von Schneestürmen sind keine besonders guten Voraussetzungen für eine harmlose Befahrung des Passes um diese Jahreszeit.

Schon recht ausgepowert, vor allem aber psychisch schon für den ganzen Tag gesättigt folgte ich nun dem weiteren Weg zum Pass. Trotz des gerade erst hinter mir liegenden Schocks standen mir noch ca. 98% der Gesamtstrecke bevor. Und da mir diese nicht geheuer war und ich nicht wusste, was noch so alles auf mich warten würde, nahm ich die Schaufel vorsichtshalber mit. Das Plus an Sicherheit bezahlte ich aber mit einem gehörigen Minus an Tempo. Denn selbst der Weg zum Pass ist im Gegensatz zu den vollmundigen Auskünften anderer alles andere als flach, sondern im Gegenteil ebenfalls mit vielen steilen Anstiegen gespickt. Auch diese waren meist ebenfalls wieder rutschig, entweder durch den trockenen Kies oder aufgrund von Eis und Schnee. Da sich der schmale Pfad zum Pass etwa knietief durch den Schnee schlängelte, konnte ich mir das kleinere Übel aussuchen: Entweder selbst auf halbwegs festgetretenen Schnee des Pfads gehen, aber das Rad durch den harten Tiefschnee reißen, oder das Rad auf dem Pfad rollen und selbst in Schneckentempo und immer bis zu den Knien einsackend durch den Schnee waten. So oder so schaffte ich es immer nur maximal fünf bis zehn Meter weiter, ehe ich wieder stehenbleiben und gierig nach Luft schnappen musste. Ich kam unvorstellbar langsam voran, da diese Pausen immer eine halbe Minute andauerten. Der geringe Sauerstoffgehalt in dieser Höhe war zuviel für den Körper. Langsam wurde es später. 10:00 Uhr zeigte mein Navigationsgerät mittlerweile an, und ich war erst auf etwa 5200 m - gerade die Hälfte der Höhendifferenz war geschafft. Mich verließ ein wenig der Mut. Aber ein Umkehren hätte Stunden des Rückmarschs bedeutet. Ich wollte voranschreiten und beobachtete daher konstant den Himmel. Ich spürte eine Brise aufkommen. Sollte es jetzt tatsächlich doch zu stürmen beginnen? Ich zwang mich dazu, meinen gesunden Menschenverstand zu nutzen und ruhig zu bleiben. Die Sonne strahlte von allen Seiten auf mich ein. Es war totenstill um mich herum. Ab und zu hörte ich das unheilvolle Rieseln von leichtem Geröll, das irgendwo abging. Die Kraft ging mir zunehmend aus. Nun begann auch noch mein rechtes Bein einzuschlafen. Was für ein unangenehmes Gefühl, wenn man auf sich selbst gestellt auf 5200 Metern im Himalaya umherstreift. Wieder kam in mir diese leichte, unterbewusste Angst um das eigene Leben auf.

Es ging weiter munter auf und ab. Für jeden Anstieg von 20 Höhenmetern brauchte ich eine viertel Stunde. Schließlich erspähte ich einen Pfosten mit einer Fahne, der auf einer Anhöhe lockte. War dies der Pass? Voller Vorfreude näherte ich mich in den kommenden Minuten, bis ich den Mast erreichte. Enttäuscht blickte ich nun aber auf die sich vor mir auftuende Ebene voller weiterer Anhöhen und anderer Masten mit Fahnen. Wie weit mochte es bis zur nächsten höheren Stelle sein? Zwei Kilometer? Vielleicht vier? Weit und breit war niemand zu sehen. Eine weitere Stunde verging, ehe ich einen kleineren Bau entdeckte. Es war die Ruine eines Teehauses. Im schlimmsten Fall, so sagte ich mir, würde ich dort versuchen zu übernachten. Nur nicht mehr zurück zum High Camp!

Die Minuten kamen mir wie Stunden vor. Das Zeitgefühl wurde relativ. Als ich auf etwa 5350 Metern angelangt war, besserte sich aber zunehmend mein Gemüt. Ich war fertig, ich möchte korrigieren: so fertig wie noch niemals auf einer Radtour vorher, auch an den ersten zwei Tagen in Andalusien, die ich schon als Maximum empfunden hatte. Aber mittlerweile hatte ich die Angst vor einem Sturm abgelegt und wusste, dass ich so oder zur Mittagszeit am Pass ankommen würde. Wie sich dann allerdings der Abstieg darstellen würde, war noch abzuwarten. Dennoch: Schlimmer als der Aufstieg konnte der Weg hinab nicht mehr werden. So trieb ich mich weiter voran, das Rad mittlerweile quer über meine Schultern gelegt, bis ich um 12:00 Uhr tatsächlich den Pass erspähte und mich ihm mit kleinen Schritten und jeder Menge Pausen näherte, schließlich um eine viertel Stunde später den mit Gebetsfahnen geschmückten Übergang erreichte. Ich war alleine. Nur ein einzelner großer, schwarzer Rabe krähte mir vom unbewirtschafteten Teehausgebäude daneben entgegen. Wie nah hier doch Glück und Qual, und Entspannung ob des Geschafften und Ungewissheit ob des noch zurückzulegenden Abstiegs beieinanderlagen. Ich nahm mir die Zeit für Fotos und Videos. Hier kam es jetzt auf eine Minute mehr oder weniger auch nicht mehr an. Wichtig war nur noch, den triumphalen Moment in Bild und Ton festzuhalten, bevor ich die Reise hinab antrat. 114 km hatte ich nun hinter mir gebracht, aber dabei 16.000 Höhenmeter! Jeder ehrgeizige Biker weiß, was das bedeutet. Eine unglaubliche Zahl.

Auf dem Weg hinab konnte ich leider die ersten wenigen hundert Höhenmeter nicht im Sattel sitzen. Zu steil war das Gelände noch für einen so schwer bepackten Biker. Dazu kamen die noch zahlreich vorhandenen Eisflächen und die stark verhärteten Schneefelder. Es mutete gar nicht so steil an, aber sobald ich die Bremsen los ließ, schnellte das Rad mit voller Wucht nach vorne. Ich musste mich also zurücknehmen und legte viele weitere Meter per Fuß zurück. Weiter unten konnte ich mehr fahren. Auf 4200 m kehrte ich an einer Lodge zu einem Schokoriegel und einer FANTA ein, bevor ich nach Muktinath (3790 m) weiterfuhr. Hier flog mein Rad pfeilschnell und verspielt über den Naturtrail, der sich über Kilometer streckte. Alles lief nun wie von selbst, wie im Schlaf. Es war eine Orgie!

Ich hatte es geschafft. Obwohl mir noch über 130 Kilometer bevorstanden, hatte ich die mir selbst auferlegte Aufgabe nun erfüllt. Der hübsche Tempel am Ortseingang war die perfekte Kulisse im Abendlicht. Ein Traum! Nur noch übertroffen wurde dieser Moment von meiner Ankunft an der Lodge meiner Wahl, die mit frenetischem Beifall vom Balkon begleitet wurde: Es waren meine spanischen Kumpels, die nicht glauben konnten, dass ich es tatsächlich geschafft hatte, den Pass alleine im Winter mit einem Mountainbike zu überqueren. Freudig fragten sie nach allerlei Details bezüglich meines  Tags. Das Zimmer war im Vergleich zu allen anderen, in denen ich seit Tal genächtigt hatte Tal geradezu purer Luxus. Warmwasser, drei Betten, ein Spiegel und vor allem ein Gebäude, das nicht aus Holz bestand und in dem man daher nicht wirklich so stark fror. Im Restaurantbereich traf ich dann auf viele weitere Weggefährten aus Neuseeland, Schottland und Deutschland. Alle erkundigten sich nach meiner Reise mit dem Rad und jedem stand die Erleichterung nach der Passüberquerung ins Gesicht geschrieben. Nach einem Teller gebratenem Reis, der mir so gut schmeckte wie seit Wochen nichts mehr, und einigen Stunden der totalen Entspannung sowie der Kommunikation mit der virtuellen Welt, die hier auf der anderen Seite des Passes endlich wieder möglich und in Anbetracht der vielen besorgten Nachrichten auch bitter nötig war, ging ich zufrieden in mein Zimmer. Besonders überraschend meldete sich der WDR via Internet bei mir und lud mich in eine Sendung als Studiogast ein. Man hatte von meiner Reise gehört, diese im Netz verfolgt und fragte an, ob man einen Bericht darüber drehen dürfe. So ließ es sich gut einschlafen.

Ich genoss mein Frühstück mit Ruhe. Heute konnte ich es verhältnismäßig langsam angehen lassen. Viele Kilometer sollten heute bergab oder durch die Ebene des Kali Gandaki-Tals gehen. Die tiefste Schlucht der Welt sollte für die letzten Tage meine Spielwiese darstellen. Lediglich auf die Uhrzeit wollte ich ein wenig achten, wusste ich doch, dass in diesem Tal täglich ab etwa 11:00 Uhr mittags ein besonders starker Wind aus Richtung Süden aufkommen solle. Viele Reisende nehmen heutzutage ein Flugzeug ab Jomsom (2740 m) zurück nach Pokhara, um sich das weitere Reisen durch das staubige Tal zu nicht antun zu müssen. Für mich jedoch war klar, dass ich das Massiv komplett umrunden wollte. Außerdem wollte ich durchaus erfahren, was es heißt, das Kali Gandaki-Tal zu durchfahren. Ich saß noch einige Minuten da und schlürfte an meinem Ingwertee, den ich nun zwar nicht mehr brauchte, aber mittlerweile lieb gewonnen hatte, und beobachtete das bunte Treiben auf der Straße hier vor den Toren des Hindu-Tempels. Zwei mir bekannte Trekker mitsamt ihrem Guide kamen vorbei, Amerikaner, die sich ebenfalls wunderten, mich auf der anderen Seite des Passes anzutreffen.

Nach einem Smalltalk und dem Checkout zog ich weiter, kaufte mir noch ein paar Packen der eh kaum noch geladenen Billigbatterien und genoss die ca. elf kilometerlange Abfahrt Richtung Kagbeni auf 2900 m. Mancher Trekker, der mich in den Tagen zuvor aufgrund der leichteren Zuladung noch müde belächelt hatte, wurde nun mit Lichtgeschwindigkeit zurückgelassen. Während der Abfahrt kam zunehmend leichter Wind auf. Als ich jedoch bei Kagbeni angekommen war, schlug mir von der Seite eine abrupte Böe derart stark gegen das Rad, dass ich im letzten Moment des Umgeworfenwerdens, noch schlagartig abbremsen und meinen rechten Fuß zum Stand auf den Boden bringen konnte. DAS war also der berühmt-berüchtigte Wind des Kali Gandaki-Tals! Mir war sofort bewusst, dass die Fahrt durch dieses Tal gewiss auch kein Zuckerschlecken werden würde.

Für die nächsten Stunden ging es auf der sandigen Piste stets mit starkem Gegenwind vorwärts. Meine Softshelljacke, die Skibrille und mein Halstuch, das ich bis unter die Brille gezogen hatte, waren nun meine besten Freunde. Vereinzelt streifte ich das Tuch wieder ab, nur um es dann wenige Augenblicke später beim Anblick eines sich vor mir in etwa 15 Meter aufbauenden Miniwirbelwinds wieder hochzureißen. Man konnte die Sekunden zählen… 21… 22… 23… Dann schlug einem von vorne die geballte Ladung Sturm und Sand gnadenlos ins Gesicht und gegen die nackten Beine. Das Tempo hatte sich so drastisch verlangsamt, dass ich nun froh war, nicht noch weitere Tage im High Camp verbracht zu haben. Immerhin wurde nun offensichtlich, dass ich für die letzten 120 km noch mindestens zwei weitere Tage bräuchte.

Die Fahrt durch dieses Tal wurde mir schnell langweiliger. Zu trist war die Umgebung, Grau- und Ockertöne waren alles, was dem Auge geboten wurde. Bäume wuchsen hier nicht und der Fluß war an vielen Stellen ausgedörrt. Irgendwie wohnte der Gegend gerade aufgrund dieser Verlassenheit aber auch eine gewisse Atmosphäre inne. Insofern war ich froh, auch diese Seite der Annapurna kennenzulernen. Unterhaltsamer wurde es, als ich zwei vertraute Silhouetten vor mir auf der Straße erkannte: Alex und Jean-David! Man freute sich über das Wiedersehen und ging eine ganze Zeit lang wieder zusammen weiter, versuchte, sich einen Weg durch das Flusstal zu bahnen und so manche Stelle waghalsig zu übersteigen. Mit dem Rad schwer beladen musste ich schließlich wieder den Weg über die Straße nehmen und den Jungs bis auf Weiteres adieu sagen. Wir trafen uns schließlich am Checkpoint in Jomsom wieder. Nach einem Mittagsessen in dem Hotel, das sich die beiden für ihren Stop hier aussuchten und einer kleineren Odyssee meinerseits zwecks Auffindung eines Geldautomaten, der meine brandneue Visistenkarte annahm, nahm ich Abschied von ihnen und reiste weiter. Trotz der durch die Suche nach einem funktionierenden Bankautomaten verlorenen Zeit wollte ich heute noch wenigstens bis nach Marpha kommen. Tatsächlich kam ich am Nachmittag besser weiter, flaute doch der Wind stark ab. So schaffte ich es am späten Nachmittag nach Tukuche auf 2600 m. Hier war die Nacht überraschend mild. Mein Körper begann nun wirklich zu entspannen.

Den kommenden Morgen wollte ich noch viel intensiver nutzen als den vorigen, um dem Wind möglichst lange aus dem Weg gehen und mich stattdessen in der Mittagszeit in einem Restaurant verkrümeln zu können. Ich startete daher um kurz nach 9:00 Uhr mit dem Tagesziel Beni (840 m). Heute führte mich die Route durch viele kleine Dörfer und eine viel abwechslungsreicher aussehende Landschaft. Man merkte, dass man an Höhe verlor, wurden die Wälder nun doch wieder sehr dicht. Immer noch hatte man dabei aber einen guten Blick auf die umliegenden Gletscher. War die holprige Straße bis nach Kalopani (2600 m) noch mit vielen Anstiegen durchsetzt gewesen, so konnte ich mich ab hier nun auf den puren Abfahrtsgenuss einstellen. Für etwa 26 km ging es nun mehr oder weniger ausschließlich bergab bis auf ca. 1180 m, immer über die einem harten Trail gleichkommende Jeeproad, vorbei an kleinen Dörfern, freundlich „Namaste!“ rufenden Schulkindern, Schafen, Ziegen und jeder Menge Motorrädern, Jeeps und Traktoren. Lediglich bei Ghasa auf 2100 m hielt ich kurz an, um am letzten Checkpoint vorstellig zu werden. Dann brauste ich durch bis nach Tatopani auf 1250, wo ich mir eine Stunde Auszeit samt FANTA und Schokoriegeln gönnte. Es war mittlerweile wieder extrem heiß und feucht. Nach Beni war es nicht mehr weit. Dort stießen mir die überlaufenden Straßen, der Verkehr und die mit ihnen allzeit präsente Hektik extrem übel auf. Nach fast zwei Wochen in der Stille der Berge war mir die Zivilisation hier doch etwas fremd geworden. Oder war es einfach doch die Tatsache, dass Beni nicht gerade mein favorite place war, insgesamt einfach etwas schmuddelig und überbevölkert erschien? Ich nahm mir jedenfalls ein Zimmer im eher edlen „Yak Hotel“, wo ich wirklich ausspannen und gut zu Abend essen konnte. Heute gab es zwar auch wieder gebratenen Reis, diesmal jedoch in freundlicher Gesellschaft zweier Frühlingsrollen, die ich mir wirklich verdient hatte. Mit Dorjee machte ich via Internet aus, dass ich doch noch bis nach Pokhara fahren solle, weil er den besonders günstigen Preis für einen Bustransport nur für Fahrten ab Pokhara hinbekommen könne. Immerhin musste der Busfahrer zuerst mit meinem Koffer aus Kathmandu anreisen und uns dann noch zurückbringen. Wo eine solche Fahrt normalerweile mit etwa 40.000 NPR, also ca. 280 EUR zu Buche schlagen würde, hatte ich mit den ausgehandelten 15.000 NPR (= ca. 115 EUR) noch viel Glück. Extrem wiederwillig, weil seit Tagen auf Beni als Zielort eingestellt, machte ich mich am kommenden Tag auf meine letzte Etappe.

Der letzte Tag im Sattel sollte ein besonders unangenehmer werden. Zwar gab es heute keine Todesängste auszustehen, dafür jedoch unglaubliche Hitze und Feuchtigkeit, die sich in Flussnähe besonders konzentrierte. Es ging über eine Landstraße, die nicht besonders gut zu berollen war, auch weil die Hitze den Straßenbelag geradezu an meinen dicken Reifen kleben ließ. Nach den ersten 17 Kilometern, auf denen eine Gruppe frei über die Straße laufender Makaken noch das absolute Highlight darstellte, stieg diese Straße bis nach Kusma (888 m) unangenehm an. Die Abgase der permanent vorbeifahren und laut hupenden Autos mochten ihr Übrigens dazu beitragen, dass mir dieser Anstieg nach den vergangenen 12 Tagen ausgesprochen schwer fiel. In Kusma hielt ich für eine COKE und einen Riegel und quälte mich dann für den Rest der Etappe über die heißfeuchte und durch Abgase versmogte Straße bis nach Nayapul auf 1020 m. Der Himmel kündigte ein Gewitter an, und dieser Abschnitt der Route war absolut unschön geworden. Eine stark befahrene, dreckige Straßenregion, die im Vergleich zu allem, was ich bisher erlebt hatte, keine besonders außergewöhnlichen optischen Akzente zu setzen vermochte, konnte ich mir sparen. Ich beendete daher in Nayapul meine Reise nach 257 Kilometern und etwa 22.000 Höhenmetern und orderte mir einen Jeep nach Pokhara. Im Auto überkam mich eine Mischung aus Müdigkeit, Euphorie und Amüsiertheit über mich selbst. Aber ich war glücklich…

Nachdem ich in Pokhara in einem hübschen Hotel genächtigt und am kommenden Morgen wieder einmal nach einem funktionierenden Bankautomaten gesucht hatte, wurde ich am Abend abgeholt. Da Dorjee selbst verhindert war, hatte er seinen Bruder Dawa geschickt, der zusammen mit zwei Freunden und dem Busfahrer kam. Die Truppe sollte mich nicht zur Ruhe kommen lassen während der nächtlichen Chaosfahrt. Wenn der Fahrer nicht gerade wieder eine Pause einlegen und was trinken oder essen musste, fragten die Jungs mich über meine Reise oder mein Leben in Deutschland aus. Ganz erschrocken war einer der Begleiter als er hörte, dass ich wirklich nur eine Freundin hätte. Wie das sein könne, wollte er wissen. Er habe vier. Ob ich mich einsam fühle, fragte er weiter. Er könne mir ein 16-jähriges Mädchen für die Nacht besorgen. Mit 10.000 NPR wäre ich dabei, führte er lachend und sich selbst nicht ganz für voll nehmend weiter aus. Als ich ihm erklärte, dass er in Deutschland mit einer solchen Aussage bereits mit einem Bein im Gefängnis stehen würde, wurde seine  Laune sogar noch besser. Die Jungs hatten augenscheinlich ihren Spaß, während Dawa mich ob seiner albernen Freunde geradezu peinlich berührt anlächelte. Aber mich konnte nun eh nichts mehr schocken. Unter permanentem Augenrollen und gleichzeitigem Grinsen überstand ich die siebenstündige Fahrt in die Hauptstadt, wo ich nachts gegen 2:00 Uhr im Hotel ankam. Dorjee hatte das Zimmer klargemacht. Es war sein Lieblingshotel, das er mir schon vor der Reise empfohlen hatte. Hübsch eingerichtet, mit freundlichem Personal ausgestattet und mit einem Zimmer samt zweier Betten und einem sauberen Bad, ließ es sich hier gut erholen. Nun war Kathmandu für mich geradezu eine Oase der Wellness geworden. Leider wurde meine Nachtruhe kurz getrübt von dem Durchfall, der mich überkam und den ich zurückführen musste auf das Dal Bhat, das wir während unserer nächtlichen Reise in einem extrem urigen Bretterbau neben der Hauptverkehrsstraße zu uns nahmen. Dazu hatte man mir auch ein paar Stücke Fleisch gereicht und mich angewiesen, dies unbedingt zu probieren, wenn ich das „wahre Nepal“ kennenlernen wolle. Ziege in scharfer Soße und mit fragwürdig gereinigtem Besteck war offenbar keine allzu gute Kombination für meinen Magen-Darm-Trakt.

Abgesehen davon schlief ich hervorragend und genoss am kommenden Morgen mein leckeres Frühstück amerikanischer Art im Hotel. Anschließend zog ich alleine los mit meinem Rucksack. Ich wollte nochmal an den großen Stupa, neben dem sich auch das Hotel befand, und dort noch einiges für meine Liebsten besorgen. Entspannt schlenderte ich durch die verdreckten, überfüllten Straßen, die mich heute irgendwie überhaupt nicht aus der Ruhe bringen konnten. Ich war einfach nur zufrieden mit mir selbst und dem Erlebten, ja, vielleicht auch dem Geleisteten. Nachdem ich eine Stunde lang die verschiedenen Shops abgeklappert hatte, suchte ich mir einen Tisch im Roadhouse-Café, der Jazzbar, in der ich bereits am Tag meiner Ankunft mit Dorjee zu Abend gegessen hatte. Bei sonnigem Wetter genoss ich meine Pizza Margherita und einen dampfenden Brownie mit Vanilleeis. Den Nachmittag verbrachte ich mit einem Nickerchen, den Abend mit meinem Kumpel Frühlingsrolle.

Der letzte volle Tag in Nepal stand im Zeichen des Abschieds. Vormittags fuhr ich mit Dorjee zum Flughafen, weil ich etwas erfragen wollte. Dann meldete sich Dawa, der mich auch nochmal sehen wollte. Ihn lud ich zu einem Mittagessen im Roadhouse Café ein, und das Abendessen nahm ich mit Dorjee in einem vietnamesischen Restaurant am Fuße der Stupa ein.

Am Morgen des 8. März fuhr man mich nach dem Frühstück seitens des Hotels zum Flughafen, wo ich meine Reise zurück nach Deutschland antrat.
Als ich im Flugzeug zurück nach Deutschland saß und über das Erlebte nachdachte, fiel mir auf, dass ich mich auf dieser Reise neben den unzähligen faszinierenden Momenten auch wieder einigen Gefahren ausgesetzt hatte. Die allgegenwärtige Sorge der Höhenkrankheit, die teilweise bedenklichen hygienischen Zustände in den Dörfern sowie den Lodges auf dem Trek,  eine Fauna, die sich nicht immer als durchweg einschätzbar dargestellt hatte und dazu vereiste Pfade vorbei an Steilhängen auf dem Weg zum Pass. Obwohl mir auch hier im Vorfeld wieder vielfach beteuert worden war, dass man sich nicht sorgen müsse, war spätestens nach dieser Reise klar, dass mich mein Bauchgefühl schon in Slowenien nicht getäuscht hatte: Ich war in der Tat sterblich. Ich machte mir daher in manchen Situationen so meine stillen Gedanken und Sorgen, egal ob um die Höhe, Krankheiten oder die Tierwelt. Und mir wurde klar: Das war nur menschlich. Ich begann zu bemerken, in welcher naturfernen Sicherheitswelt wir in unserer westlichen Wohlstandsgesellschaft leben. Jetzt konnte es keine Einbildung mehr sein; es war zur Erkenntnis geworden, dass ein Großteil unseres alltäglichen Stresses nicht durch die von der Natur auferlegten widrigen Umständen erklärbar ist. Im Mitteleuropa des 21. Jahrhunderts leben wir auf allen Ebenen so stark abgesichert vor der Natur, dass wir uns überlegen müssen, woher die vielen Ängste eigentlich rühren, mit denen wir so oft zu kämpfen haben. Weder müssen wir uns permanent vor Steinschlag und Lawinen in Acht nehmen, noch brauchen wir Angst zu haben vor dem Leoparden, der unsere Schafe oder Ziegen reißt, auf der wir unsere Existenz aufbauen. Unsere Kinder müssen auch noch nicht im Alter von acht Jahren eine Herde Kühe von der Weide zum Stall treiben. Stattdessen dürfen sie ihre Freizeit beim Spielen, Malen oder auf dem Sofa vor dem TV verbringen. Wieso aber kamen mir die Menschen Nepals dann derart zufrieden vor?

Jetzt hatte ich erkannt, wie weit uns der Luxus verändert hat. Nicht nur sind es hygienische, kulinarische und materielle Aspekte, die unser Leben gegenüber dem eines nepalesischen Bergdorfbewohners erfüllter scheinen lassen. Die Sicherheit ist es, die sich in unserer Welt so weit ins Perfekte gesteigert hat, dass eine einfache, aber doch irgendwie ungewohnte Sache wie das freie Spazieren durch eine uns fremdere Natur eines anderen Kontinents, allein auf sich gestellt, eine ernsthafte Bedrohung darstellt und der Körper mit einem Angstgefühl reagiert. Sicherheit vor den Schicksalsschlägen durch die Natur, das ist eine Errungenschaft der westlichen Welt, vielleicht aber auch eine zweifelhafte. Etwas Gutes hatte diese Besinnung aber auch für mich: Von nun an würden die meisten zukünftigen Reiseprojekte mich nicht mehr wirklich schocken können. Auch die Zufriedenheit mit dem im Leben bisher Erreichten würde sich ab jetzt sicher nochmals steigern lassen. Ich hatte gelernt.



Bleibende Eindrücke:

  • Positiv: Freundliche Menschen sowie eine atemberaubende und abwechslungsreiche Hochgebirgskullise. Dazu meist hervorragendes Wetter.
  • Negativ, aber zu erwarten: Brutalste Anstiege, extreme Temperaturunterschiede, gefährlich eng Pfade direkt am Abgrund auf dem Weg zum Pass, starker Sauerstoffmangel ab 4000 m, dadurch schlechter Schlaf in den letzten Nächten vor der Passüberquerung.
  • Der Anblick hart arbeitender, aber kaum etwas besitzender Menschen, die immer noch lachen können. Insbesondere beeindruckt von den körperlichen Schwerstarbeiten der Steinarbeiter vor den Toren Manangs.
  • Die Fragen nach meiner Herkunft, meinem Ziel und den Kosten meines Fahrrads.
  • Nudeln und Reis konnte ich im Anschluss für mindestens einen Monat nicht mehr sehen.
  • Lieblings-Momente: Natürlich das Erreichen des Passes sowie die Ankunft in Muktinath am gleichen Tag. Daneben die ersten gefahrenen Meter hinein in das Abenteuer ab Besisahar, die wunderbare Aussicht ab Ghusang (3950 m) und der flowige Trail bis nach Yak Kharka.
  • Die körperlich eindeutig härteste Tour, die ich je gefahren bin.

Fotos: