Norwegen 2018


Für den Sommer und Herbst 2018 hatte ich mir im Vorfeld schon einiges vorgenommen. Nachdem ich meine ersten Vorträge zur Himalaya-Reise gehalten hatte, wollte ich in diesen Monaten neben mindestens einer weiteren Transalp sowie einer Durchquerung der Karpaten unbedingt ein skandinavisches Land bereisen. Ich entschied mich für Norwegen. Nachdem ich an Höhe den Himalaya eh nicht mehr übertreffen konnte und die Karpaten ob ihrer Fauna mit besonderer Vorsicht zu genießen sein würden, sollte Norwegen vor allem eins bedeuten: Ein Maximum an Naturgenuss, totale Entschleunigung, atemberaubende Fotos. Keine Tour der Extreme, statt dessen Ruhe und den Moment genießen - so zumindest die Idee. Nach etwa zehnstündiger Anfahrt ließ ich mein Auto in Hirtshals (DK) zurück und setzte mit der "Fjordcat" nach Kristiansand über. Von hier aus führte mich die erste, ausgesprochen sonnige Etappe über 77 Kilometer an der Otra entlang nach Evje. Mein Ziel der Tour war Stavanger, etwa 300 km entfernt. Obwohl ein Großteil der Strecke über ausgewiesene Fahrradwege verlief und erst am Nachmittag durch die Wälder leitete, war dies eine der schwersten Auftaktfahrten, die ich je bei einer Auslandsreise zu absolvieren hatte. Der Hauptgrund hierfür war vor allem der bleiartige Rucksack, der nochmals schwerer war als im Himalaya. Im Gehen schwankte ich damit leicht hin und her. Gegen 20 Uhr kam ich in Evje an und bezog ein Zimmer im einzigen Hotel, das ich auf die Schnelle finden konnte. Norwegen-typisch schlug dies gleich ein hübsches kleines Loch in die "Urlaubskasse".
Am zweiten Tag stand mir ein langer Straßenabschnitt nach Ljosland bevor. Das Wetter war unbeständig und fast ausnahmlos grau. Hin und wieder gab es Schauern von Nieselregen. Wie Kaugummi zog sich die Strecke, die mit 75 km wieder mal keine Kurzstrecke darstellte. In Aseral konnte ich mir am Nachmittag endlich auch meine Fischfanglizenz für das Hochland besorgen. Wenn ich gewusst hätte, was mich in den kommenden Tagen erwarten würde, hätte ich darauf gut verzichten können...
Nachdem ich in Ljosland auf ca. 540 m noch einmal vernünftig übernachten konnte, stand an Tag Nummer 3 die Auffahrt zum Hochland an. Es regnete. Der Wetterbericht sagte auch für die kommenden Tage nur wechselhaftes Wetter voraus. Mehr oder weniger widerwillig sattelte ich dennoch gegen 11:00 Uhr den Drahtesel und machte mich auf den Weg. Zunächst ging es noch über Asphalt steil bergan, bis ich im Regen die letzten Häuser hinter mir ließ und auf den Trail abbog. Was nun folgen sollte, waren 38 km reinster Horror, die ich fortan als die bisher anstrengendsten Kilometer meiner Radreisen bezeichnen muss. Der Trail entpuppte sich nämlich als reiner Wanderpfad, vollkommen mit großen Steinen oder riesigen Felsbrocken versetzt und ansonsten mit Wurzeln und dichtem Gras durchsetzt. Selbst das Rollen des Rades war kaum möglich. Im Sekundentakt musste das Rad gehoben oder gestoßen werden. Ich kam nur im Schneckentempo vorwärts. Und wieder regnete es. Nun kam auch noch ein starker Wind dazu. Die Temperatur lag bei recht frischen 12 Grad. In einer Landschaft ohne Bäume oder sonstige Möglichkeiten zum Unterstellen eine unangenehme Kombination. Für die nächsten drei Stunden schlug ich mich über diesen Pfad, kletterte, riss, stieß und...fluchte. Vom Regen total durchnässt und keine einzige geeignete Stelle für den Aufbau meines Zelts findend betrat ich gegen 15:00 Uhr und nach nur 8 km schließlich eine Wildhütte auf 840 m. Niemand war hier. Ich erkundete die Räumlichkeiten und entschloss mich dann, über Nacht hier zu bleiben. Freude kam erst auf, als ich den Ofen angefeuert hatte und über die nächsten Stunden meine nassen Sachen trocknen und mir Essen machen konnte. Zwischendurch ging ich hinaus und wusch mich im eisigen Bachwasser neben der Hütte. Später am Abend, um etwa 22:00 Uhr, traf noch ein Paar ein. Es war wohl schnell unterwegs gewesen und erst um 20:30 Uhr losgegangen. Etwas enttäuscht von meiner scheinbaren Langsamkeit kam ich in Zweifel darüber, ob ich am nächsten Morgen tatsächlich diesen Weg weitergehen sollte oder nicht. Leider gab es keinen anderen und eine Route über Straße nach Stavanger hätte bedeutet, zuerst wieder zurück nach Evje fahren zu müssen. Dies kam mir so langweilig wie unsinnig vor, war ich doch hergekommen, um vor allem die atemberaubende Natur zu genießen und auch im Bild festzuhalten. Also musste ich es irgendwie zur nächsten Hütte schaffen, denn das Wetter war als schlecht zu erwarten und somit schien ein Zeltaufbau im felsigen, komplett unebenen und oft moorigen Gelände eher unwahrscheinlich. Satte 22 km trennten mich aber vor der nächsten Hütte. Mir wurde klar, dass ein Weitermarsch eine unglaublich harte Strecke bedeuten würde. Nichtsdestotrotz stand ich um 7:00 Uhr morgens auf und war um 8:00 Uhr bereits unterwegs. Für den ersten Kilometer brauchte ich schätzungsweise eine komplette Zeitstunde, da ein Steilanstieg auf 1000 m zu überwinden war. Das Rad und ich standen dabei in einer 45 Grad-Hangneigung. Dichtes, fast kniehohes Gras und schwer begehbares Gelände machten ein Hinaufbringen des Rads fast unmöglich. Als ich auf 1000 m angekommen war, hoffte ich, nun das Schlimmste überwunden zu haben. Aber da wusste ich noch nicht, dass es von nun an dutzende solcher Hügel zu überwinden gelten würde. Mich regelmäßig nach anderen Wanderern umdrehend schritt ich für viele Stunden vorwärts. Bergseen und Felswände säumten meinen Weg. Manches davon erstrahlte im sporadisch einfallenden Sonnenlicht, vieles jedoch wurde getaucht in das triste Grau des Regenwetters. Heftige Windböen und wieder einmal frische Temperaturen zerrten an den Nerven. Und dann diese Feuchtigkeit im Boden. Gegen Mittag war sie bereits in die Schuhe und durch alle Kleidung gezogen. Ich spürte, wie sich an meinen Fersen Blasen anfingen zu bilden. Doch es half alles nichts. Ich musste ja weiter. Zu weit im Trail war ich bereits. Wo waren die anderen Wanderer denn nur? Sie hätten mich doch schon längst überholt haben müssen? Ich zwang mich dazu, nicht auf meine Kilometerangabe zu sehen, denn ich wollte nicht enttäuscht werden. Psychologie ist die halbe Miete bei einer solchen Route. Und mein Gemüt musste ich irgendwie positiv einstellen. Mit jedem Kilometer wurden die Schmerzen an den Füßen stärker. Die Steilhänge der Hügel wurden schwerer zu überwinden, denn bei jedem Abknicken der Füße zog es geradezu unmenschlich an den Fersen. Um etwa 19:30 Uhr kam ich schließlich über die Kuppe eines Hügels und sah von oben auf einen rieseigen See herab. Da sah ich nun endlich Hütten! Eine davon musste die bereits vor Stunden durch ein Wegschild angekündigte Kvinen-Hütte sein. Voller neu aufsteigender Energie ging ich schnellen Schrittes den Hang hinunter. Der leichte Nieselregen machte mir in diesem Moment kaum etwas aus, spürte ich doch jetzt, dass ich es noch vor Anbruch der hier erst spät einsetzenden Dunkelheit schaffen konnte. Aber je näher ich dem See kam, desto offensichtlicher wurde, dass der Trail nicht am Ufer entlangführen, sondern wieder nach oben in das Hochland abknicken würde, um eine kleine Ansammlung alter Hütten und deren Umzäunung zu umgehen. Ich konnte nicht mehr. Noch weitere Stunden konnte ich einfach nicht mehr ertragen. Ich entschied mich dazu, nach unten zum See herabzusteigen, wo ich ein flaches, unbewachsenes Ufer auszumachen glaubte. Um an dieses zu gelangen, musste ich jedoch zuerst eine massive Ansammlung großer Felsen im zufließenden Fluss überwinden. Das Ganze glich einem Super Mario-Level. Ein falscher Schritt und ich hätte mir leicht etwas brechen können. Als ich das Ufer erreicht hatte, versuchte ich das Rad zu besteigen, aber schon nach wenigen Tritten sackte das Rad in den Schlamm. Hier war kaum ein Vorwärtskommen möglich. Ich kam nun zwar minimal schneller und etwas müheloser vorwärts als in dem verblockten Hanggelände, dafür jedoch musste ich nun das komplette Ufer abgehen und konnte nicht die per Luftlinie deutlich kürzere Wegdistanz über einen Hügel nehmen. Noch dazu kam nun immer mehr Sand in meine Schuhe und rieb wie Sandpapier auf meiner wunden Haut. Ich ging auf die Kvinen-Hütte zu. Nirgendwo war ein Mensch zu sehen. Auch meine Trekkerfreunde waren immer noch nicht zu sehen. Sie mussten offenbar umgekehrt sein. Als ich die Hütte schon kurz vor mir sah, gab die Landschaft plötzlich den Blick frei auf eine natürliche Barriere: einen ca. 20 Meter breiten Arm des Sees. Hier war kein Rüberkommen. Nun wurde mir anders. Die Sonne ging langsam unter, der Himmel war voller Wolken. Die Füße taten mir höllisch weh. Ich musste die Schuhe ausziehen und mir ansehen, wie es um sie bestellt war. An beiden Fersen hatte sich die über viele Stunden eingeweichte Haut großflächig abgelöst. Kein schöner Anblick und eine ausgesprochen schmerzhafte Angelegenheit noch dazu. Ich reinigte die Wunden so gut es ging und zog die nassen Socken und Schuhe wieder drüber. Unter einem fortwährenden Jammern torkelte ich nun weiter. Ich kam zu den anderen, leerstehenden Hütten, die auf einem Teil des Geländes standen, das wiederum auch vom Wasser abgetrennt war. Tausender riesiger Felsen lagen hier übereinandergestapelt. Ich wollte hinüber. Also musste ich einen Weg finden, das reißende Wasser über die Felsen kletternd zu überwinden. Es wurde dunkler. Ich war definitiv alleine. Es war ja auch Wochenende und diese Hütten, so wurde mir nun klar, waren lediglich unter der Woche von Arbeitern bewohnt, die hier am Staudamm tätig sein mussten. Eine weitere Stunde verging, in der ich versuchte, mir einen Weg durch dieses Labyrinth aus Felsen zu bahnen, ohne dabei gefährlich abzurutschen oder meine Ausrüstung zu beschädigen. Mit Hilfe von viel Geschick und dem strategischen Einsatz von kreativ ins Wasser geworfenen, kleinen Felsbrocken wurde es mir möglich, ans andere Ufer zu gelangen. Nun fing es wieder leicht an zu regnen. Ich konnte nicht mehr viel sehen. Ich ging auf die Hütte zu. Auch sie war aber eingezäunt. Mit Zäunen hatte ich bereits in Andalusien nur schlechte Erfahrungen gemacht. Und Norwegen bildete keine Ausnahme. Gegen 22:00 Uhr fand ich im letzten Licht eine klapprige Holztür im Zaun, die mittels eines Drahts zugehalten wurde. Ich öffnete die Tür und trat auf das offenbar in der Renovierung befindliche Grundstück. Überall lagen Massen von Bauholz. Unten der Dächern der verschiedenen Gebäude waren Glaswolle und Nahrungsmittel gelagert. Aber der Wohnraum, der die Küche beinhaltete, war abgeschlossen. Wo sollte ich nun hin? War hier wirklich alles verriegelt? Der Wind fegte mir bis auf die nasse Haut, meine Füße waren zermürbt von 22 Kilometern schlimmster Tortur. Im letzten Moment sah ich noch einen Seitentrakt, der zwei weitere Türen aufwies. Eine davon war tatsächlich nicht abgeschlossen. Dahinter verbarg sich ein winziger Raum, der nun Platz für ein doppelstöckiges Bett und einen kleinen Tisch bot. Es war der "Honde Rom", also offenbar der "Hunderaum", denn auf dem Boden stand ein Napf. Es war angenehm warm hier drin, da der Raum über viele Tage scheinbar nicht mehr benutzt worden war. Und wer hätte sich hier hin auch verirren sollen? Schnell zog ich meine Kleidung aus und ging mit den notwendigen Utensilien zu einem Eimer, in den durch einen alten Gummischlauch fortwährend Bergwasser sprudelte. So wusch ich mich im kalten Wind und Nieselregen mit eisigem Wasser. Aber ich war nur noch überglücklich, einen trockenen Raum für die Nacht zu haben. Sobald ich mich abgetrocknet in eins der Betten gelegt hatte, schlief ich auch schon ein. Nicht einmal mehr essen konnte ich. Nur meine Füße rieb ich noch mit Bepanthen ein.
Am nächsten Morgen konnte ich kaum etwas bewegen. Ich war leicht benommen und meine Fersen waren kaum beweglich. Die Unterseite der Füße war rauh und schrundig. Wie gerne hätte ich einfach einen Tag lang in diesem Zimmerchen verbracht. Aber ich wusste, dass in Ljosland nur für zwei Tage halbwegs beständiges Wetter angekündigt worden war. Danach sollte eine massive Regenfront folgen. Also musste ich weiter. Ich nahm mir vor, die Zivilisation zu erreichen, und zwar über den Ort Donsen, der etwa 8 km entfernt liegen musste. Doch dies war schwieriger als gedacht. Schon für die ersten 80 Meter Wegdistanz brauchte ich nun 20 Minuten, so steil ging der Hang hinauf. Die Füße waren unbeweglich geworden. Sie rissen sekündlich. Auch mein rechter Unterschenkel war mittlerweile nur noch eine einzige Wunde, so oft hatte ich das Pedal beim Tragen und Wuchten des Rades schmerzhaft abbekommen. Ich marschierte voran. Mir tat alles weh, aber nach einer Stunde traf ich zwei Wanderer, die aus Donsen kamen. Sie sagten mir, es seien noch ca. 5 km. Das klang schonmal ganz gut. Vor allem wusste ich nun, dass ich auf dem richtigen Weg war. Über Stunden kämpfte ich mich vorwärts. An anderer Stelle bekam ich von Wanderern Wundpflaster geschenkt. Was für eine Gabe! Bevor ich diese nutzen konnte, wollte ich aber erst mein Tagesziel erreichen: Sinnes.
Irgendwann um etwa 16:30 Uhr sah ich einen Ort unter mir. Er bestand aus vielen Häusern und man konnte auch eine Art Straße erkennen. Das war Donsen. Nie habe ich mich zuvor derart über Zivilisation gefreut. Mit den letzten Kräften fuhr ich in den Ort ein und von dort weiter über frisch asphaltierte Straßen nach Sinnes, wo ich im örtlichen Supermarkt einkaufte und dinierte und mir dann beim örtlichen Campingplatz eine Hütte nahm. Es regnete wieder. Aus den Wunden an meinen Füßen trat nun auch Wundwasser aus. Meine Reise hatte ich hier geschafft. Alles, was jetzt noch folgen sollte, wären zwei Tage nach Stavanger über Straße.
Und so begab ich mich am kommenden Tag durch strömenden Regen nach Byrkjedal und am letzten nochmals etwa 70 km zu meinem Ziel Stavanger. 318 Kilometer überwand ich bei dieser Reise, doch die zentralen 38 waren die gnadenlosesten gewesen, die ich bisher erlebt hatte, vielleicht sogar noch schlimmer als meine Überquerung des Thorong La Passes in Nepal. Ein Mountainbike und einen übergewichtigen Rucksack über einen anspruchsvollen Trekkingpfad zu hieven war abstrus. Aber ich kam nach Hause mit einigen der schönsten Fotos, die ich in der Natur bisher machen konnte. Bilder sagen mehr als tausend Worte...


Rad: ROCKY MOUNTAIN Thunderbolt 750 (27,5")
Genutzte Bereifung:
Continental Mountain King 2,4" (v) / Mountain King 2,2" (h)

Tagesstrecken:


Tag 1: Kristiansand - Evje (77 km)
Tag 2: Evje - Ljosland (75 km)
Tag 3:
Ljosland - Lakkenstova Hütte (8 km)
Tag 4: Lakkenstova Hütte - Kvinen Hütte (22 km)
Tag 5: Kvinen Hütte - Sinnes (23 km)
Tag 6: Sinnes - Byrkjedal (45 km)
Tag 7: Byrkjedal - Stavanger (68 km)


Bleibende Eindrücke:


  • Unberührte, aber unnachgiebige Natur.
  • Typisch skandinavisches Lebensgefühl: Leben und leben lassen. Das Jedermannsrecht ist eine für uns Deutsche ungewöhnliche, aber doch so logische "Erfindung". Die Natur als Allgemeinbesitz aller Bürger und Touristen. Freies Zelten in den meisten Teilen des Landes, nahezu barrierefreies Angeln - wieso kann es nicht überall so einfach geregelt sein?!
  • Die Weite und Stille des Hochlands. Einsamkeit, die gleichsam faszinieren und auch besorgen mag.
  • Die Freude über die Errungenschaften der Zivilisation, Austausch mit anderen Menschen, ein trockenes Zimmer und natürlich die Möglichkeit des Bezugs von Nahrungsmitteln.

Fotos: