Eifel-Cross 2020


Im Jahr 2020 wollte ich neben einigen anderen neuen Reisen auch ein ambitioniertes Heimatprojekt unterbringen und nach 2016 ein zweites Mal einen Eifel-Cross realisieren, also eine Fahrt durch die Eifel nach Luxemburg oder Belgien. Im Januar hatte ich die Wintersaison mit einer kleinen Hike’n’Bike-Reise ins österreichische Alpbach begonnen. An drei wettertechnisch beständig guten Tagen hatte ich erstmals den Bike-Tragerucksack der Firma OUTENTIC sowie ein Superweitwinkelobjektiv des Herstellers SAMYANG getestet, zwei Produkte, die mir freundlicherweise dauerhaft zur Verfügung gestellt worden waren. Mit einem vom Kramsacher Tourismusbüro spontan organisierten Vortrag meinerseits konnte dort ein entspanntes, Mikroabenteuer abgerundet werden, das mich schonmal auf den Winter einstellte.

Wenn man an einen Spaziergang oder eine Radfahrt im Winter denkt, kommen einem Bilder von weißen Feldern und Wäldern in den Sinn, vereiste Seen, knirschender Schnee unter den Füßen oder Rädern und strahlender Sonnenschein. Stellt man sich dazu dann noch vor, wie man durch seine eigene Heimat reist, denkt man an vieles, an Vertrautheit, vielleicht sogar Entspannung, jedoch nicht an eine kräftezehrende Reise mit ausnehmend schlechten Witterungsbedinungen, die letztlich auf ihre ganz eigene Art und Weise einen besonders bleibenden Eindruck hinterlassen könnte.

Am 24. Januar begab ich mich auf meine erste Etappe, Richtung Urfttalsperre im Nordwesten der Eifel. Tagelang hatte ich bereits versucht, die für mich „ultimative Eifel-Route“ zu designen, eine Strecke, die möglichst alle prägenden Eifel-Highlights beinhalten sollte. Das Hohe Venn sollte ebenso darin vorkommen wie bekannte Burgen und Orte, die Maare der Vulkaneifel, Überreste des Westwalls, der Nürburgring, die Wasserfälle Nohns oder die Rur- und Urfttalsperren. Schnell musste ich feststellen, dass es keine besonders logische Streckenführung geben konnte, wenn ich dies alles miteinbeziehen wollte. Entweder musste ich auf einiges verzichten oder eine abenteuerliche Route erstellen und mehr Zeit investieren als ursprünglich geplant. Vermutlich muss ich nicht gesondert bemerken, dass ich mich zu letzterem entschied. Und so sollte meine Reise in einem kuriosen Zickzackmuster über die Eifel verlaufen, ausgehend von Euskirchen nach Nordwesten zur Urft- und Rurtalsperre, anschließend eher südlichwestlich weiterführen durch das Hohe Venn und das bekannte Örtchen Monschau auf die belgische Seite, bevor es schließlich wieder nach Osten über Losheimergraben, Kronenburg und Stadtkyll nach Hillesheim und vor dort über Nohn ins verträumte Monreal gehen sollte. Nach einem weiteren Richtungswechsel sollte die Fahrt einmal mehr in den Westen führen, über die Burgen Eltz und Cochem zu den Maaren der Vulkaneifel, vorbei an den Burgruinen Manderscheids, schließlich nach Prüm und in einem letztem Sprung nach Vianden in Luxemburg.

An diesem 24. Januar weckte mich die Sonne. Es war freundlich, windstill und des nachts hatte es gefroren. Entsprechend gut war die Stimmung. Das neue Bike kam gut voran, obwohl die extrem breiten 2,6“-Reifen mit der weichen Gummimischung, die das Rad ab Werk mitbrachte, sich noch als Bremser herausstellen sollten. Mit den größeren 29“-Laufrädern ging es aber zügig vorwärts. Über die Dörfer und Felder meiner Heimat wie Stotzheim und Wachendorf gelangte ich zügig in die Wälder vor Mechernich, wo urplötzlich dichter Nebel aufzog, der mich kalt und nass erfasste und die Umgebung in ein mystisches Licht tauchte. Zunächst verschwendete ich kaum einen Gedanken daran und begann wie üblich mit dem Erstellen erster Fotos und Videos meiner Reise. Ich folgte den verwurzelten und vom tauenden Reif schlüpfrigen Pfaden hinab durch den menschenleeren Winterwald an einem Freitagvormittag und genoss dabei die in der Werkwoche, insbesondere zu dieser Jahreszeit, noch luxuriöse Einsamkeit in der Natur in diesen Wäldern. Ich kam an die Straße und fuhr wenige Minuten später durch Mechernich, wo beim kurzen Frühstück nochmal kurz die Sonne herauskam. Diese Sonnenstrahlen sollten bis auf Weiteres die letzten bleiben, die mich auf dieser Tour begleiten würden.

Sobald ich die Stadt verließ, gelangte ich in eine massive Nebelwand, die sich den ganzen Nachmittag über bis zum frühen Abend halten sollte. Die Temperatur fiel rapide ab und die Luft war maximal übersättigt mit Feuchtigkeit. Nun begann ich zu frieren und das trotz meiner dicken Trekkinghose und der langen Merino-Unterwäsche darunter, die mich bereits durch den Himalaya gebracht hatten. Das Wasser stand schnell auf allen Oberflächen des Rads. Mit minimaler Sicht ging es über die Stationen Roggendorf, Schützendorf und Lückerath, bevor etwas passierte, das mir fast die gesamte Tour über Probleme bereiten sollte: Mein Navigationsgerät ging aus, obwohl einige Stunden zuvor frische Batterien eingelegt worden waren. Ich hielt an, ersetzte die Batterien und schaltete das Gerät wieder an. Doch anstatt binnen weniger Sekunden wieder bereit zur Weiterfahrt zu sein, schien sich das Gerät, das mich seit 2015 auf all meinen auch teilweise besonders heißen, kalten und feuchten Reisen wie in Andalusien, im Himalaya oder in Norwegen so tapfer und vollkommen komplikationslos begleitet hatte – und nach dieser Reise auch wieder begleiten würde – einfach aufgehängt zu haben. Trotz wiederholten Neustarts fuhr die Software nicht gänzlich hoch und die Weiterfahrt wurde nicht nur um Minuten, sondern gar Stunden verzögert. Ich stand gefühlte Ewigkeiten im kleinen Ort Voißel, in dem ich keinerlei Zuflucht vor dem eisigen, nassen Nebel, wie etwa durch eine Bushaltestelle, ein Café oder Kapelle, finden konnte und hoffte Stunde um Stunde darauf, dass das Navigationsgerät doch noch hochladen würde. Dieses Verhalten war ja derart neu für mich, dass ich noch jede Minute die volle Funktionsbereitschaft erwartete. Als ich endlich an den meisten Stellen meines Körpers durchnässt war oder das Auskühlen kaum noch aushielt, zitterte und soeben beschlossen hatte, die gesamte Tour abzubrechen, mich abholen zu lassen und sie an einem anderen Tag bei besserem Wetter noch einmal neu anzugehen, zeigte das Gerät schließlich doch wieder die Karte und meine Route an. Mein Ehrgeiz kehrte binnen Sekundenbruchteilen zurück, aber verlorene Zeit, war verlorene Zeit. Eine Stunde später schon sollte die Sonne untergehen und ich wollte bis dahin eine Unterkunft gefunden und noch ein wichtiges Foto geschossen haben. Etwa 25 Kilometer waren noch bis nach Rurberg zurückzulegen, sozusagen mein Trostziel, und ob das Navigationsgerät nochmal ausgehen würde, konnte ich nicht wissen. Somit ging ich den ersten Kompromiss dieser Reise ein und fuhr nach dem Sammeln einiger die Tristesse des Tages eindrucksvoll festhaltender Nebelfotos auf schnellstmöglichem Weg hinab Richtung Gemünd, wo ich mich entlang der Urfttalsperre im langsam aufklarenden Wetter hielt.

Auch hier an der Urft war ich in einer menschenverlassenen, trist daliegenden Natur unterwegs. Gottverloren zu dieser Jahreszeit, aber nicht ohne einen gewissen Charme. Jetzt versuchte ich aber, eine gewisses Tempo zu halten und das letzte Licht des Tages zu nutzen, denn mir schwebte natürlich ein gewisses Bild vor: Die Talsperre im Sonnenuntergang, sofern ich noch irgendwie rechtzeitig an eine geeignete Stelle gelangen und ein Foto machen könnte. Die Fahrt entlang der Talsperre schien mir in diesen Momenten endlos. Die verlorenen Stunden im Nebel hatten mir viel Kraft geraubt, mich davon abgehalten, die Distanz zu fahren, die ich eigentlich für den Tag anvisiert hatte und das eiserne, Jahre alte Vertrauen in mein Navigationssystem erschüttert. Mit Zweifeln reist es sich nicht so gut, aber auch diese gehören zu solchen Projekten. Manchmal muss man versuchen, das Beste aus einer Situation zu machen. Je näher ich meinem jetzigen Ziel Rurberg kam, desto mehr Zeit nahm ich mir für gelegentliche Fotostops. Und da endlich, um 18:00 Uhr lag sie schließlich vor mir: Die Urfttalsperre, ihre Oberfläche vollkommen still, im sagenhaften Abendlicht. Für diesen Anblick und die ultimative Stille dieser Minuten hatte es sich dann gelohnt, die Tour im Nebel doch nicht abzubrechen, sondern hartnäckig weiterzufahren. In der kommenden halben Stunde konnte ich noch einige weitere zauberhafte Aussichten genießen und ebensolche Fotos schießen. Mit dabei war ja nun auch mein neues Kamerasystem, das bisher nur in Alpbach mitgeführt und genutzt worden war. Entsprechend viel konnte ich auch aus dem Licht der Dämmerung noch herausholen. Das sind die Momente, in der Du meist die besten Fotos machst: am Morgen und am Abend. Hier hast Du ein kleines Zeitfenster, in dem Du zuschlagen musst, wenn Du auf der Jagd nach einem Bild mit besonderer Stimmung bist, das Dich noch für den Rest Deines Lebens an eine atemberaubende Reise erinnern .

Gegen 19 Uhr, als die Sonne ganz untergegangen war, erreichte ich Rurberg und fand zum Glück schnell ein Zimmer, direkt am Übergang der beiden Seen. Nachdem ich mich mit ein paar bitter notwendigen Glücklichmachern - also Cola, Mars und Co. – eingedeckt hatte, sah ich zu, dass ich meine nasse Kleidung zum Trocknen zurechtlegte. Während ich meine Sachen auspackte, um auch die Fotos des Tages durchzuschauen, stellte ich fest, dass sich der neue ORTLIEB-Rucksack hervorragend zu machen schien. Die Firma hatte mich, nachdem ich schon einige Jahre lang ihre Produkte auf meinen Reisen im Himalaya, Norwegen, den Alpen, Pyrenäen und Karpaten benutzt hatte, mit neuen Satteltaschen und diesem Rucksack ausgestattet und dies war nun seine erste Bewährungsprobe. Innen war tatsächlich alles knochentrocken geblieben. Dies war auch bitter nötig, war ich doch nun mit noch umfangreicherem und hochwertigerem Kameraequipment als sonst unterwegs. Wenigstens dieses Stück Ausrüstung schien bestens zu funktionieren.

Apropos Funktionieren: Das Navigationssystem trocknete ich sofort ab und legte es zum Trocknen an die Heizung, mit herausgenommenen Batterien. Es folgte das Übliche auf solchen Touren. Ich nahm eine lange, heiße Dusche, und begab mich zum Abendessen. Wirklich Hunger hatte ich kaum. Vielleicht hatte ich zu wenig getrunken. Nichtsdestotrotz genoss ich den Abend und fiel später schnell in den Schlaf.

Am nächsten Morgen startete ich zum Test direkt den Radcomputer. Siehe da, er ging sofort an und war betriebsbereit. Es hatte also offenbar mit der Kälte und Feuchtigkeit zu tun. An diesem Tag, der ohne Untertreibung einer der widerspenstigsten, aber auch an Eindrücken ergiebigsten all meiner bisherigen Radreisen werden würde, sollte es ins Hohe Venn und nach Monschau gehen. Auch einige Überreste des Westwalls sollten mir auf der Etappe begegnen. Zunächst jedoch wollte ein langer Anstieg über Woffelsbach genommen werden. Einmal mehr war es nass und kalt. Es sollte nicht lange dauern, bis ich wieder in dichten Nebel kam und die zehrende Feuchtigkeit zur Geduldsprobe wurde. Über Stunden kämpfte ich mich durch die dichte Nebelwand über Steckenborn, und Simmerath bis nach Mützenich vor. Auf dem Weg bemerkte ich abseits des Route, weder ausgeschildert noch deutlich ersichtlich, eine Formation von Steinen im Feld, die mir bekannt vorkam: Es handelte ich um Westwall-Ruinen, Panzersperren aus dem zweiten Weltkrieg. Auch dieser weniger erfreuliche Teil der Geschichte gehört zur Eifel und damit zu meiner Heimatregion. Für einige Minuten schaute ich mir die mit Moos überzogenen Klötze noch an und dachte darüber nach, wie es damals wohl gewesen sein mag, im Krieg, hier an der Front. Aber ob man sich das jemals vorstellen können wird? Schließlich stieg ich wieder auf und fuhr bei besser werdendem Wetter und ein wenig Sonne weiter bergan ins Hohe Venn.

Die Landschaft des Venns zeigte sich mir entsprechend der Temperaturen vereist, dennoch freundlich, etwas märchenhaft entrückt. Fehlender Nebel und die freundliche Mittagssonne luden zu einem Verweilen an verschiedenen Aussichtspunkten und Bänken ein. Ein faszinierender Ort, wenn es so ruhig ist, wie es an diesem Tag war und wenn man natürlich die Zeit dazu mitbringt, dies alles ausgiebig genießen zu können. Als ich gerade kurz davor war, den Tag als großen Erfolg zu verbuchen und meinen Weg fortzusetzen, passierte es wieder: Das Navigationssystem fiel aus. Diesmal war es aber nicht so feucht gewesen. Kalt, das war es auch diesmal. Aber hatte ich im Himalaya nicht noch weit tiefere Temperaturen damit durchgestanden? Wie dem auch gewesen sein mag, diesmal verlor ich ebenfalls eine komplette Stunde nach Batteriewechsel. Überhaupt war dieser nun sehr beachtlich. Tägliches Wechseln der Batterien war mir vollkommen neu. Sonst hielten sie stets für mindestens drei Tage durch. Somit musste ich mich nun, am Samstagnachmittag, neben der verlorenen Stunde auch noch um das Kaufen von Batterien kümmern, denn ich hatte zwar eine volle Packung mit zusätzlichen acht Stück mitgenommen, aber dass diese noch vor dem darauffolgenden Montag hätten aufgebraucht sein können – und dafür hätte nun nur noch die Beleuchtung ihren Saft verlieren müssen -, hatte sich meiner Vorstellungskraft dann doch entzogen.

Auf geschwungenen, gut rollenden Trails flog ich hinab gen Monschau, dem bekannten Touristenort. Wollte ich hier schon mein Zimmer suchen? Irgendwie fehlte dem Tag noch etwas und ich hatte noch etwas Luft. Etwa 16:15 Uhr verkündete die Uhr, noch 1:45 h bis Sonnenuntergang. Aber bevor ich meine Reise fortsetzen konnte, musste ich zuerst weitere Batterien besorgen. Ich musste also hinab ins Stadtzentrum, wo sich die Batteriensuche als weitaus beschwerlicher darstellte als ich es mir je hätte vorstellen können. In Monschau ist in der Regel für jedes Wohl gesorgt. Doch wie man mir erklärte, sei der Standort Monschau in den letzten Jahren doch einer gewissen Wandlung unterlegen gewesen, so dass man nun eben nicht mehr so einfach alles in den Geschäften finden würde. Wiederum fast eine ganze Stunde für ein Päckchen Batterien suchen zu müssen, führte die Pechsträhne nun also fort.

Als ich letztlich dann doch fündig wurde, fragte ich die Verkäuferin nach meinem anvisierten Tageshighlight, dem Chateau de Reinhardstein, das sich nur etwa 10 bis 15 Kilometer entfernt auf belgischem Gebiet befinden sollte. Von diesem Schloss hatte sie aber noch nie gehört. Erstaunlich! Wenn man jemanden bei mir in Euskirchen nach der Burg Satzvey, ebenfalls nur etwa zehn Kilometer entfernt fragt, weiß jeder, bescheid. Verwundert und zugleich neugierig ob dieses augenscheinlichen Phantomschlosses wollte ich nun umso lieber diesen Ort besuchen.

Etwa eine Stunde blieb mir noch bis zum Sonnenuntergang. Die Sonne stand jetzt am Himmel. Das schien meine Chance zu sein. Ich hastete nun immer bergauf, Richtung Kalterherberg und über die Grenze zu Belgien zurück ins Hohe Venn. Kaum war ich dort angekommen – ich hatte mich besonders beeilt und die Sonne lag schon tief über den Hügeln -, schlug das Wetter wieder um und die Sonne wich mit einem Schlag dichtestem Nebel. In der frostigen Nässe sah ich nun nichts mehr. Die Sicht betrug womöglich fünf bis acht Meter. Gelegentlich konnte ich neben der Strecke bereifte Moorlandschaften und gespenstisch anmutende Sträucher erkennen. Düster, menschenfeindlich und geradezu maßregelnd wirkte der Anblick. Vielleicht fuhr auch ein Stück Fantasie mit. Dazu meine Hast. Die Zeit lief mir davon und vom Sonnenlicht war nichts mehr zu sehen. Mein Wunsch vom Anblick des Märchenschlosses im Abendlicht wurde schnell unrealistisch. Ich war nun bereits wieder seit über einer Zeitstunde unterwegs und die Zeit der Dämmerung rückte immer näher. Nirgendwo ein Anzeichen für ein erneutes Durchstoßen der Sonne. Stattdessen nur Nebel, eisigste Kälte, Wasser überall und ein ebenso triefendes Rad. Mit zusammengekniffenen Augen trieb ich mein Rad und mich durchs Nass, die Zähne und Lippen schmerzend von den vielen Stunden im Winter der Eifel.

Ich war mittlerweile in einem fast schon tranceartigen Zustand angekommen als sich im Grau des Nebels eine beklemmende Silhouette abzeichnete, die mich vor allem aufgrund ihres Unerwartetseins derart beeindruckte, wie sie es tat. Mir bot sich der Anblick eines alten, teilweise zerfallenen und verlassenen Bahnhofs. Heruntergekommen, mit zerbrochenen Fenstern, die Schienen teilweise überwuchert vom kargen, winterlichen Gras und der Rest gehüllt in die Farben der Vergänglichkeit und des unaufhaltsamen Laufs der Geschichte. Eine  trostlose Melange aus Grau und dem rotbraunen Farbspiel von Rost und Verfall. Soeben noch gehetzt, um irgendwie eine imposante Burg am Abend vor die Linse zu bekommen, schien mir dies nun der ungleich reizvollere Moment. Lost places, selten hatte ich etwas auf meinen Reisen gesehen, das diesem Begriff mehr zur Ehre gereicht hätte. Schnell machte ich eine Serie von Fotos und Videos mit beiden Kameras und begab mich wieder auf den Weg, nachdem ich sie wieder von den Tropfen befreit hatte, die sich binnen Sekunden überall abgesetzt hatten. Durch winzige, den Namen kaum verdienende Dörfchen bzw. vereinzelt im Nebel auftauchende Häuser und einsame Kneipen am Straßenrand rollte ich nun weiter in die fast schon nächtlich-dunkle Nebelwelt. Hier gab es nichts. Grenzgebiet. Simpel. Rustikal. Vergessen. Ob es an einem klaren Tag hier anders gewirkt haben könnte? Vielleicht hätte ich mehr gesehen, aber hätte es auch mehr zu sehen gegeben? Was für Minuten, die ich hier in dieser Zeit des Nachteinbruchs im Nebel des Eifelwinters erleben durfte!

Die blaue Stunde, wenn man sie so nennen konnte, näherte sich langsam ihrem Ende. Ich kam durch einen kleinen Ort. Alte Häuser, wenige Häuser, keine Menschenseele auf der Straße, einige vereinzelte, orangestrahlende Straßenleuchten: Ovifat. Ein erstes Schild am Wegesrand wies einen Weg zur Burg aus. Ob man hier in diesem Gebiet überhaupt eine Bleibe finden konnte? Falls ich die Burg überhaupt noch sehen könnte, wann würde ich ein Zimmer finden? Das aber war jetzt auch egal. Jetzt gab es schon lange kein Zurück mehr. Kalterherberg war eine Stunde in die andere Richtung entfernt und das Chateau wenige Minuten voraus, da irgendwo in diesem kalten Grau vor mir. Ich passierte einen Wanderparkplatz. Ein zweiter tauchte auf. Hier musste es zur Burg gehen und in der Tat zeigte mir meine Navigation an, dass das Schloss wenige hundert Meter vor mir im Tal liegen musste. Aber ich konnte nicht einmal einen Umriss erkennen. Auf glitschig-matschigem Untergrund, dicken, losen Steinen und tückischen Wurzeln ritt ich im kleinen Kegel meiner Lampe hinab über einen Wanderpfad und musste dabei aufpassen, dass es mich nicht vom Rad holte. Die Sicht war nicht mehr der Rede wert. Ich fror erbärmlich, denn alles war durch die Feuchtigkeit des Nebels durchnässt.

Da, plötzlich drang durch das Düstere der anbrechenden Dunkelheit ein warmer Schimmer. Umrisse zeichneten sich gegen die unheilvolle Umgebung ab. Ich erkannte einen Turm, dann einen zweiten. Licht schien aus dem Inneren. Ich rollte nun auf den Vorhof des Schlosses zu. Niemand war hier. Ein altes Auto stand in einem Schuppen zu meiner Rechten. Der Anblick des Chateaus war gigantisch. Da stand es plötzlich vor mir, tief verborgen im komplett vernebelten Tal, düster und unnahbar sich abhebend gegen den Himmel, dessen Farben noch zwischen tiefem Blau und dem durchbrechenden Schwarz der Nacht umherwandelten. Kälte. Nässe. Nebel. Vollkommen alleine. Und dann, als ich soeben dazu übergehen wollte, den Moment als perfekt zu bezeichnen, und meine Kamera zum ersten Foto anzusetzen, geschah etwas, das wie aus einem Hollywood-Drehbuch entrissen schien: Aus dem Inneren des großen Turms vor mir begann mittelalterliche Spielmannsmusik zu erklingen. Ich stand wie gebannt da, ehe ich unbedingt ein Video davon machen musste. Einen fesselnderen Augenblick hatte ich bis jetzt auf meinen Abenteuern selten erlebt. Sicher, es hatte so einige wunderbare Augenblicke gegeben und nicht selten hatten Burgen oder Ruinen damit zu tun gehabt. Ob es das Castillo de Almodovar del Rio in Andalusien 2017 gewesen war oder Rocca Calascio in den Abruzzen 2019: Beide hatte ich im Abendlicht erleben dürfen, beide Male frei von jeglichen Touristen. Die einzigen Geräusche seinerzeit waren das Zirpen der Grillen und das leise Rascheln der Gräser im Abendwind gewesen. Pure Magie. Momente für die Ewigkeit. Aber heute war etwas anders. Dieser Augenblick schien einem Dialog gleichzukommen, in etwa so als wenn diese Burg sich zunächst der Entdeckung durch mich vehement zur Wehr gesetzt und sich mir dann doch noch unterworfen und in voller, an diesem Abend nur mir sichtbarer, düsterer Pracht präsentiert hätte; gerade so als hätte sie sagen wollen: „Das hast du dir verdient!“ Natürlich war es nicht so. Aber diese Vorstellung beschreibt meine Gefühle sehr gut, die ich in diesen Minuten verspürte. Für einige Zeit vergaß ich die eisige Kälte, die abstoßende Nässe und meinen entkräfteten Körper. Ich war stolz. Die anfänglich sich doch als so problematisch andeutende Reise hatte sich gewandelt, nicht etwa zu einer einfacheren, vielmehr zu einer unerwartet harten, die aber mit einem ebenso unvorhersehbaren düsteren, menschenabweisenden Charme beeindruckte.

Nun musste ich noch eine Bleibe finden. Ich fuhr aus dem Tal wieder hinauf zur Straße. Mittlerweile war alles um mich herum schwarz. Einen Menschen hatte ich auf belgischer Seite noch nicht gesehen. Keinen einzigen. Einen Kilometer bergab lag ein See und an ihm eine Siedlung. Ich fuhr dorthin und klingelte an einer Pension. Man hatte nichts mehr frei. Ich versuchte es an einer zweiten. Auch hier gab es nichts. Erst als man mich genauer betrachtete und mit mir sprach, dabei mitgeteilt bekam, wo ich herkam und was ich bis jetzt erlebt hatte, schien plötzlich doch ein Zimmer bereit. Ich nahm dieses dankend an. Lediglich das Essen musste ich in Robertville, einen Kilometer entfernt, auf der anderen Seite des Sees, einnehmen. Ich wurde angewiesen zuerst zum Essen zu fahren und anschließend das Zimmer zu beziehen. Nun war mir aber alles recht. Man bestellte einen Tisch und ich fuhr dem wohlverdienten Abendessen entgegen. Während ich beim Essen saß, durchströmte ein wohliges Erfolgsgefühl meinen Körper, fast so als ob ich soeben den härtesten Punkt einer schweren Hochgebirgstour hinter mich gebracht hätte. Ich wusste, dass mir diese Etappe einige nicht alltägliche Momente beschert hatte, Abenteuer, wie man sie nur erleben kann, wenn man aus seiner Komfortzone ausbricht, auch wenn man es vielleicht sogar unfreiwillig tun muss. Dazu hatte ich diesen Tag mit seinen fesselnden Stationen noch dazu in Bild und Ton festhalten können. Die Tour war jetzt ein Erfolg. Aus der geplanten Entspannungstour bei schönem Winterwetter war eine Dokumentation der rauhen, ursprünglichen Eifelwelt geworden. Anders als gedacht, aber eine umso spannendere Alternative und Geschichte.

Der Morgen der dritten Etappe bot sich mir wieder grau, nass und vernebelt. Die Richtung der Tour würde heute gewechselt. Es ging zurück, hinein nach Deutschland. Für Stunden fuhr ich wieder durch das Hohe Venn. So langsam hatte ich mich an das unangenehme Reisegefühl in diesen Tagen gewöhnt, denn dieses Mal ging es auffällig zügig vorwärts. Die ersten paar Dutzend Kilometer rollten wie von selbst unter meinen Rädern hinweg. Nahe Losheimergraben  erreichten die Temperaturen auf dieser Tour ihren Tiefstwert. Deutlich unter null Grad, dazu etwas Schnee und der immernasse Dauernebel, der die Temperaturen nochmals massiv verschlimmerte. Ich fuhr aus Belgien heraus und reiste, nun vor allem bergan jagend, unter verdammt hohem Windchillfaktor über die Stationen Kronenburg, Stadtkyll und Jünkerath bis nach Hillesheim, wo ich letztlich im Krimihotel gastieren sollte. Aber auch dieser dritte Tag sollte nicht ohne Probleme bleiben. Und auch dieses Mal war es das Navigationssystem, dass sich pünktlich zwei Kilometer vor dem Etappenziel wieder ausschaltete und einmal mehr für etwa eine ganze Zeitstunde nicht wieder hochladen wollte, eine weitere Stunde in der eisigen Feuchtigkeit, die mich wieder fast um den Verstand brachte und mir wie an jedem der Tage zuvor neben der Zeit vor allem auch Kilometer kostete. Die Masse der gefahrenen Kilometer scheint auf meinen Reisen zwar sekundär. Analog zu den verlorenen Distanzen wachsen aber natürlich die Reisekosten. Bei allem unbezahlbaren Naturgenuss muss man daher auch immer ein wenig das gute Geld im Auge behalten. Und wenn man Zeit und damit sprichwörtlich auch Geld erübrigen mag, dann doch bitte nicht für ein immer wiederkehrendes Technikproblem, sondern lieber weil man an einen ganz besonderen Ort gekommen ist, der zum ungeplanten, längeren Verweilen einlädt.

Am vierten Tag meines Eifel-Crosses lautete das Ziel Monreal, ein bildhübsches Örtchen. Da ich ausnahmsweise wusste, dass ich an diesem Tag nicht weiter fahren wollte, um am darauffolgenden nicht eine zu kurze Etappe vor mir zu haben und außerdem das Wetter extrem unangenehm war – es regnete bereits beim Aufwachen in Strömen -, reservierte ich mir schon vor der Abreise ein Zimmer. Beim Verlassen des Hotels stand ich dann auch unmittelbar im Wolkenbruch. Diese Etappe sollte einer der anstrengendsten werden. Diesmal war es aber nicht mehr der Nebel, der mich wie an den ersten drei Tagen aufhielt, sondern der nicht aufhörende Regen und der ganztägig peitschende Gegenwind; auch keine ansprechende Kombination. Erwartungsgemäß langsam kam ich vor allem ab dem frühen Nachmittag voran. Stationen dieses Tages waren etwa die Burg Kerpen, die sehenswerten Wasserfälle bei Nohn, der Nürburgring, die Virneburg oder Monreal selbst.

Zunächst mussten aber mal wieder Batterien her, denn mein Navigationssystem wie mittlerweile auch die Beleuchtung fraßen ganz schön viel Energie in diesen Tagen. Nach erfolgreichem Shopping fuhr ich dann im Regen ehrgeizig drauflos und genoss überraschenderweise die abwechslungsreiche und immer im leichten Wechsel aufsteigende und abfallende Strecke zwischen Wiesen, Wald und Radwegen. Die Burg Kerpen, ein weiterer wirklich beeindruckender Bau, wurde zum frühen Highlight im nicht wirklich fotogenen Wetter. Meine eigene Stimmung war noch gut, auffallend gut. Sie steigerte sich nur noch als ich nach einiger Zeit bei den Nohner Wasserfällen ankam. Es hatte zwischenzeitlich aufgehört zu regnen und ich verbrachte viel Zeit an verschiedenen Punkten der Wasserfälle, um meine Fotos und Videos zu machen. Als der Regen wieder mit sofortiger starker Vehemenz einsetzte und ich auch gottlob bereits alle Aufnahmen im Kasten hatte, sattelte ich wieder mein Ross.

Nun folgten Stunden im Sturm und Dauerregen auf dem Weg zum Nürburgring und darüber hinaus. Meine Mütze und Kapuze über den Kopf gezogen und meinen Halswärmer gut angelegt nahm ich Kilometer um Kilometer; das Rad von oben bis unten tropfend, die Bremsen quietschend. Senken und Anhöhen wechselten sich weiter munter ab, und der Radcomputer meldete am frühen Nachmittag dann auch mal wieder niedrigen Batteriestand. Und damit setzte eine innere Unruhe ein, wohlwissend, dass bei diesem Wetter eine erneute unfreiwillige und derart lange Pause aufgrund eines nicht wieder hochladenden Navigationssystems wie an allen Tagen zuvor extrem riskant werden könnte. Denn immerhin war dies bereits der vierte Tag, den ich in eiskalten Temperaturen um und unter null Grad sowie in maximaler Feuchtigkeit sowie Sturm verbrachte. Eine schwere Erkältung schien mir nun jeden Tag wahrscheinlicher.

Durch die jetzt einsetzende Hast kam ich hinter Atem. Immer wieder hielt ich an kleinen Unterständen oder Bushaltestellen an, um einige Minuten meinen Standpunkt auf der Karte kontrollieren oder abtropfen zu können. Immerzu jedoch, wenn ich eine Pause machen wollte, durchzog der kalte Wind meine nasse Kleidung. Und trotz langer Unterwäsche sowie dicker Socken und Schuhe wurde es mit den Stunden kälter und kälter, auch um Hals und Nacken herum. Regen und Schweiß trugen beide ihren Teil dazu bei, dass an Trockenheit nicht zu denken war. Ich hatte noch eine lange Strecke vor mir bis zu meinem Ziel Vianden. Nun, ungefähr auf halber Strecke, die Tour abzubrechen, hätte mich sehr enttäuscht.

Ich musste also weiter, ob ich wollte oder nicht. Das Sich-Quälen im Nass schien mir sinnvoller als auskühlend dasitzend auf besseres Wetter zu hoffen. So trat ich weiter in die Pedale und erklomm nun die Anhöhen zu des Eifelers Sportzentrum Nummer eins: den Nürburgring und mit ihm die Nürburg selbst. Es goss wie aus Eimern und die Wegesränder waren stellenweise noch mit leichtem Schnee gesäumt. Der Ring und die Burg lagen im nachmittaglichen, nassen Grau leider ebenso trist da wie sovieles zuvor auf dieser Tour, dazu noch nicht einmal in eine mystische Nebelwand gehüllt wie die Highlights der zweiten Etappe. Von hier oben sollte es jetzt erstmal zügig bergab gehen. Leider stand das Wasser mittlerweile so hoch, dass durch die pfeilschnelle Abfahrt meine ganze Kleidung nochmals besonders durchnässt wurde und sich meine Schuhe komplett mit Wasser füllten. Dies sollte zum Problem werden. Doch zunächst geschah, was sowieso den ganzen Tag über unausweichlich geschienen hatte.

Mein Navigationsgerät kündigte mal wieder seinen Dienst und ging aus als ich gerade noch auf meiner langen Abfahrt war. Im kleinen Ort Baar fuhr ich einmal mehr eine kleine Bushaltestelle an. Leider stürmte es von allen Seiten hindurch. Schnell wechselte ich die Batterien und damit begann – wie hätte es anders sein können – eine weitere endlos scheinende Stunde des Wartens auf das erneute Funktionieren der Technik. Diesmal wurde es erschreckend frisch, dann kalt, schließlich grenzwertig. Auch nach 30 Minuten war noch nichts passiert. Ich entschloss mich dazu, Kreise in dem Ort zu drehen, bis der Computer wieder hochladen würde. Mindestens zwanzig Minuten kurvte ich durch die Gassen. Aber es passierte nichts mehr. Ich stellte das Rad wieder ab und wartete nochmals eine viertel Stunde. Meine Finger und mein Gesicht froren immer stärker, aber was mich langsam besorgte, waren meine Füße. Das Wasser hatte ich zwar zwischendurch ausgekippt, aber nichtsdestotrotz waren Socken und Schuhe komplett durchtränkt mit Eiswasser.

Nun wurde es langsam dunkler und ich hatte noch etwa 20 Kilometer vor mir. Ich musste etwas tun, immerhin hatte ich der Pensionsinhaberin angekündigt, gegen 16:00, spätestens 17:00 Uhr mein Zimmer beziehen zu können. Ich musste Google Maps bemühen und eine Alternativroute suchen. Als ich mich entschieden hatte, wo entlang ich fahren und dass ich die nichtaufgezeichneten Kilometer hinterher am Computer nachhalten würde, packte ich alles zusammen und brauste die Straße weiter bergab. Dabei quitierte mein linker Fuß seinen Dienst und begann, taub zu werden. Ich musste schon wieder anhalten und irgendwie meinen Fuß bewegen, um das Taubheitsgefühl in den Zehen zu bekämpfen. Nun hatte ich wirklich Sorgen. Ich stand in der Eifel, meiner Heimat! Weder war es so heiß wie in Andalusien noch so kalt oder hoch wie im Himalaya. Und an Übernachtungsmöglichkeiten oder Kulinarischem gab es alles, was das Herz begehrte. Aber heute sollte ich, durchaus reiseerfahren, lernen, wie lang auch 20 Kilometer in der eigenen Heimat werden können, wenn negative Umstände schlichtweg alle zusammenkommen.

Irgendwann konnte ich die Füße wieder halbwegs normal bewegen, und ich stieg sofort auf, um die Route fortzusetzen. Es ging nun eine anständige Strecke hinauf, zur Virneburg. Obwohl der Anstieg langwierig und anstrengend war, kam mir die Tatsache, hier leicht windgeschützt zu sein, sehr entgegen. Nun tropften endlich wieder auch Schweißtropfen, nicht nur Wasser, von meiner Stirn. Über die Hügel um Luxem kam ich auf matschigen Wiesentrails Monreal immer näher. Im Halbdunkel ruppelte ich den knubbeligen Erdboden herab, verschlammte mein Rad und mich bis zum Äußersten. Leider bot sich mir an diesem Abend kein atemberaubender Nebel und auch kein romantischer Sonnenuntergang, doch die Lichter Monreals am Fuße des Bergs waren Freude genug. Alles, was ich jetzt wollte, wirklich alles, waren ein Zimmer, ein Bett und eine Dusche. In Monreal fand ich schnell meine wunderbar charmante Pension und Gastgeber. Man gab mir einen Eimer voll warmem Wasser, damit ich mein  Bike reinigen konnte. Anschließend bat man um meine Kleidung, um sie in den Trockner werfen zu können. Der Ofen in der Stube bollerte bereits auf vollen Touren. Aber es sollte noch eine Stunde dauern, ehe ich das Kribbeln der einsetzenden Durchblutung in all meinen Extremitäten, vor allem auch den Oberschenkeln und sogar dem Allerwertesten spüren konnte. Der Rucksack hatte auch heute wieder streberartig dichtgehalten. Meine Abendkleidung war trocken. Ich saß lange noch am heißen Ofen, ehe ich Essen fassen ging. So grau, nass und irgendwie stinknormal diese Etappe von außen gewirkt haben mochte: Du hast nicht jeden Tag ein Chateau de Reinhardstein im Nebel von den Augen. Und dennoch gehört jede Etappe zu Deiner Reise. Jede verbraucht Deine Energie. Selten hatte mir eine moderate Etappe so schwere Probleme bereitet. Nun hatte ich vier Tage voller frostigen Nebels, Regen und Sturm hinter mir. Konnte es noch schlimmer kommen?

In Hollywood würde man jetzt noch einen draufsetzen. Doch am fünften Tag war so etwas ähnliches wie Sonne am Himmel zu sehen. Dennoch war es nass und windig. Nach einem reichhaltigen Frühstück ging es die Hügel hinauf mit den Zielen Burg Eltz und später Cochem. Es nieselte nur leicht, die Sonne kam ein wenig durch die Wolken. Die Freude hielt ein Weilchen an, während ich im Anstieg war. Doch oben auf dem Plateau sollte sich das Blatt wenden. Ab heute knallte mir Windstärke 9 frontal und seitlich entgegen. Im gefühlten Neigungswinkel von 30 Grad fuhr ich gegen den Sturm, Meter für Meter. Die vier vergangenen Etappen steckten mir eindeutig in den Knochen. Aber nun gönnte ich mir Zeit. Heute sollte es nur um die beiden Burgen Eltz und Cochem gehen. Solange es nicht so feucht wie in den vergangenen Tagen werden würde, würde ich es mit den restlichen Umständen aufnehmen. Über die Stationen Kehrig und Kollig kam ich dem ersten Ziel näher und suchte mir einen schönen Weg durch den Wald, südostwärts, der Burg Eltz entgegen. Nette Trails, ein paar ansprechende Wurzelteppiche. Etwas Umsicht war geboten. Dann der erste Blickkontakt zum Objekt der Begierde. Doch was war das? Eins der großen Eifel-Highlights war zu dieser Jahreszeit in ein Baugerüst gehüllt. Renovierungsarbeiten während der Winterzeit sollten das Bauwerk wieder für die Touristensaison fit machen. Heute enttäuschte also nicht so sehr das Wetter als vielmehr der Anblick dessen, wozu man vor allem in diese Region gekommen war. Dennoch: Ich genoss die Ruhe der schönen, zu dieser Zeit fast menschenleeren Natur und fuhr nun steil die asphaltierte Straße zum Besucherparkplatz hinauf, um möglichst schnell an die Mosel zu kommen, der ich nach Cochem folgen sollte.

Kaum war ich am Flussufer angekommen und radelte im Rollatortempo gegen den bremsenden Sturm, kam ich mal wieder vom Regen in die Traufe: Wieder ging das Navigationssystem aus, wieder wurden Batterien gewechselt und wieder war eine lange Wartezeit angesagt. Dieses Mal jedoch fand ich schnell eine Tankstelle, in der ich einen Teil der Wartezeit bei einem Kakao totschlug. Da ich die Strecke kannte und mir den Kilometerstand gemerkt hatte, ließ ich den Computer Computer sein und fuhr die letzten fünfzehn Kilometer nach Nase. Wie an allen anderen Tagen zuvor auch würde die Technik des Nachts nach ausreichender Trocknungszeit wieder vortrefflich funktionieren. Aber bis ich ein Zimmer gefunden hatte, sollte es noch ein weiter Weg sein. Im Touristen-Hotspot Cochem, den ich im Dunkeln erreichte, gab es nämlich offenbar kein einziges Zimmer. Sämtliche Pensionen waren zu dieser Jahreszeit nicht bewohnt und die Hotels waren ebenfalls alle abgedunkelt. Es erforderte fast eine Stunde intensiven Absuchens der Straßen und einiger Gespräche mit Passanten sowie Telefonate, bis ich das einzige Hotel fand, das geöffnet war und mir ein Zimmer bieten konnte. Hier konnte ich endlich entspannen, mir die Fotos des Tages ansehen und mich mit dem ein oder anderen kulinarischen Hochgenuss selbst belohnen.

Etappe sechs der großen Winter-Eifeldurchquerung startete wie einen Tag zuvor mit Wind, ein wenig Sonne und etwas Regen. Noch schien sich die Wettervorhersage „sonnig, teils bewölkt“ zu bewahrheiten. Voller Tatendrang ging es an die Arbeit. Die massive, lange Steigung aus dem Ort heraus hoch hinter die Reichsburg Cochem geht Dir in die Knochen, das ist gewiss. Und besonders wenn Du bereits fast eine Woche in solchen Witterungsverhältnissen unterwegs bist, lässt Du hier auch nochmal einen Haufen Körner mehr. Aber dieser Anblick lohnt sich einfach jedesmal, wenn ich hierher komme. Ist es die schönste Burg Deutschlands? Ich weiß es nicht, aber irgendwie konnte ich mit der hexenartigen, dunklen Aura dieser Burg schon immer viel anfangen. Massiv. Eindringlich. Einfach respekteinflößend, wie sie da so über der Stadt thront. Wie diese Festung wohl im Mittelalter so gewirkt haben mag? Und dazu dieser schöne Trail, der um sie herumführt und einen erstklassigen Blick auf die Mosel bietet. Da würde man am liebsten stundenlang stehenbleiben und genießen. Aber auf einer solchen Tour liegt immer eine anständige Wegstrecke vor Dir, und diesmal sollte es noch weitere wunderbare Burgbauten zu sehen geben. Die Etappe versprach zudem leider, zu 100 Prozent gegen den Sturm zu gehen. Dieses Versprechen löste sie ein. Keine wirklich nasse Etappe, aber eine geradezu aufdringlich stürmische setzte mir nun zu. Weiterzukommen schien ein Traum zu bleiben. Schließlich begann es zu allem Überfluss auch noch zu hageln und zu schneien. Windstärke 9, Schnee, Sturm von vorne, Hagel und nirgendwo eine Möglichkeit, sich mal länger ins Warme setzen zu können. Es galt die Zähne zusammenzubeißen, mal wieder.

Über die Gegend um Lutzerath und Immerath kam ich am Nachmittag an die Maare, für die diese Region so bekannt ist. Im Sturm und Grau des Himmels wirkten sie nun allerdings nicht besonders einladend. Zudem war ich alleine. Nirgendwo war ein Mensch oder auch nur ein Imbiss geöffnet. Oder war dies genau das, was ich jetzt suchte? Totale winterliche Tristesse? Die Eifel in ihrer forderndsten Form, unwirtlich und nur etwas für Überzeugungstäter? Wer weiß! Mittlerweile hatte mich ja auch längst mit dem Gedanken an eine Abenteuertour durch die ungeschönte Ehrlichkeit der winterlichen Eifel angefreundet. Da passten die fast schon langweilig vor sich hin glucksenden Wassermassen der Maare und die rostigen Tür- und Fensterschlösser der Uferimbisse eigentlich perfekt ins Bild. Die Eifel im nicht immer bilderbuchartigen Winter: Ein einziger Lost Place. Und dies meine ich durchaus nicht negativ.

Über den Feldern und Wäldern von Eckfeld und Pantenburg kam die Abendsonne durch die Wolken. In Manderscheid wollte ich noch die beiden Burgruinen im Abendlicht ablichten und mir dann dort ein Zimmer suchen. In einem solch bekannten Touristenort sollte die Zimmersuche ja mit einem Fingerschnipp abgeschlossen sein. Aber das hatte ich am Tag zuvor bei Cochem auf erwartet. Stolz lagen sie da, die beiden bildhübschen Ruinen der Ober- und Unterburg, während ich die Hänge hinabkam und sie auf der gegenüberliegenden Seite wieder erklomm. Intensiv widmete ich mich der üblichen Foto- und Videoarbeit. Deutschland ist wirklich reich an beeindruckenden Burgen. Aber wie schon in Andalusien oder den Abruzzen musste ich auch diesmal wieder feststellen: Am meisten faszinieren mich Burgen, wenn sie entweder zerfallen sind und der Vergänglichkeit Tribut gezollt haben oder wenn sie wie in Belgien oder Cochem eine gewisse Unnahbarkeit ausstrahlen, also ihre Fensterläden und Türme nicht zurechtgemacht sind wie in Disneyland oder an einigen anderen bekannten Schlössern und Burgen.

In Manderscheid wurde mir in der Tourismuszentrale leider mitgeteilt, dass die meisten Hotels geschlossen seien und es keine Zimmer gäbe. Man empfahl mir einen Gasthof in Bettenfeld, etwa sechs Kilometer entfernt. Da dafür ein tiefes Tal zu durchfahren war und die Sonne schon fast untergegangen war, war meine Begeisterung dahingehend, nun nochmal eine dreiviertel Stunde fahren und davon mindestens 25 bis 30 Minuten im Anstieg verbringen zu müssen, nicht gerade enorm. Und vor allem musste ich mir vorher noch einen Supermarkt suchen, da es in Bettenfeld sowie auf dem Weg dorthin keinen anderen gab. Die üblichen Snacks und Getränke musste ich also jetzt noch schnell besorgen. Als ich nach dem Kauf endlich wieder aufs Rad kam, war keine Zeit mehr für langes Suchen nach einem geeigneten Aussichtspunkt, denn ich hatte mit dem Wirt eine ungefähre Uhrzeit abgemacht. Da ich rechtzeitig im Gasthof erscheinen wollte, versäumte ich den neben dem am ersten Abend einzigen fast wolkenlosen Sonnenuntergang der Tour. So ging es sofort an den Endspurt, hinab ins Tal und hoch gen Bettenfeld, wo das Zimmer bereits auf mich wartete. Nicht viel passierte auf diesen letzten Kilometern des Tages, außer dass ich auffallend viel fluchte, war ich doch im Kopf schon längst im Feierabend gewesen als ich in Manderscheid angekommen war.

Nichtsdestotrotz erreichte ich das Ziel komplikationslos. Nicht nur war an diesem Tag Pizza-Abend im Gasthof, was mir sehr gelegen kam, nein, auch die dortige Gesellschaft war ausgesprochen kontaktfreudig und sympathisch. Dazu war mir diesmal das Navigationssystem ganztägig treu geblieben. Ein positives Detail! Und so langsam konnte ich das Ziel meiner Reise, Luxemburg, schon riechen.

 

Am Morgen wechselte ich nach dem Frühstück direkt wieder meine Batterien und brach auf nach Schönecken. Um meine noch intakte Gesundheit nicht aufs Spiel zu setzen, wollte ich heute nicht unbedingt weiter fahren. Etwas früher eine Bleibe haben und ein paar Stunden mehr ausspannen, das war meine Idee. Die Sonne ließ sich auch heute nicht blicken, jedoch war das Dunkelgrau der letzten Tage einem freundlicheren Hellgrau gewichen und der zunächst noch spürbare, aber dann immer mehr abnehmende Wind und ausbleibende Regen taten ihr Übriges dazu, dass die siebte Etappe die vielleicht vergleichsweise lockerste werden konnte, wenngleich es auch diesmal massig Höhenmeter zu machen galt. Ab Densborn ging es hoch in den Gerolsteiner Staatsforst, entlang des Kälberstallbachs. Hier fand ich die totale Idylle: Kein Auto und keine Menschen über Stunden. Und: Auch kein Wind. Offenbar tat auch meinem Navigationsgerät das aktuelle Wetter gut, denn auch an diesem Tag sollte es durchhalten. Die Kombination aus Minusgraden und extremer Luftfeuchtigkeit bzw. Nebel und Regen war wohl an den Tagen zuvor zuviel für meinen digitalen Begleiter gewesen. Der lange Anstieg in den Forst machte mir nichts aus. Es rollte leicht und beständig und die Ruhe, besonders jene vor dem Wind um meine Ohren herum, genoss ich in vollen Zügen. In Schönecken kam ich dann so früh an, dass ich beschloss noch zehn Kilometer bis nach Prüm dranzuhängen; Höhenmeter, die ich dann am nächsten Tag gespart, Zeit, die ich zusätzlich zum Fotografieren gehabt hätte. Pünktlich bei Ankunft am Ziel begann es dann aber natürlich doch noch zu schütten. Hier fand ich relativ zügig ein Hotel – ja, auch in Prüm war längst nicht alles geöffnet - und konnte plangemäß früh ausspannen. Mittlerweile war mir der Alltag dieser Reise vertraut geworden. Die Etappen hatte ich überschaubarer gewählt, um auch bei technischen Problemen noch genügend Zeit bis zum frühen Sonnenuntergang zu haben und entsprechend entspannt ein Zimmer finden zu können. Analog dazu fuhr ich ruhiger und hatte abends auch wieder deutlich mehr Appetit als noch am ersten Abend in Rurberg, wo ich von dem guten Essen nur eine Hälfte runterbekommen hatte.

Einmal mehr ging es am achten Tag, an dem ich Neuerburg anvisierte, ganztägig gegen starken Wind von vorne und beständigen, leichten Nieselregen. Ich fuhr teilweise an der Prüm entlang und dann einen elendig unangenehmen Anstieg hinauf über die Hügel. Ich glaube, es müssen Stunden gewesen sein. Jedenfalls kam es mir so vor. Der Wind wurde immer stärker und wurde zum Sturm. Zwischen Lichtenborn und Arzfeld fiel mir auf, dass ich einem Hügelkamm fuhr und es wenig Sinn machen würde, erst wieder die hart erkämpften Berge nach Osten runter gen Neuerburg zu rollen, um sie am nächsten Tag dann wieder hochzufahren und entschloss mich statt dessen spontan dazu, lieber gleich zum Ziel nach Vianden weiterzufahren, da für den nächsten Tag ganztägiger, massiver Regen gemeldet war. Und meine Gesundheit wollte ich jetzt dann auch nicht mehr riskieren. Weiter fuhr ich in heftigen Windböen Luxemburg entgegen. Der kleine Grenzort Gemünd sollte für mich zum Sinnbild vieler Gefühle auf dieser Tour werden: Trostlos, grau, alte, abgewrackte Autos und LKWs, dazwischen rostige Fahrräder, teilweise übereinandergestapelt. Und dennoch: im Detail voller Leben. Hühner, Katzen, Schweine liefen dazwischen umher, neben und auf der Straße, saßen auf den Autowracks und mauzten oder gackerten in den faden Tag hinein.

Nach einer letzten dreiviertel Stunde über Straße erreichte ich schließlich Vianden. Ich suchte mir ein romantisches Zimmer in einem rustikalen Hotelrestaurant und nahm vor dem Abendessen die Gelegenheit wahr, mit den Kameras bewaffnet, die Burg Vianden in der blauen Stunde fotografieren und filmen zu gehen. Während ich da stand, fing es an zu regnen. Die Tour endete so, wie sie fast die ganze Zeit der acht Tage über gewesen war: Nass und kalt, aber mit einem sich lohnenden Bild vor Augen.

Hier in Vianden endete mein großer EIFEL–CROSS nach ca. 500 überraschend langen und erbittert erkämpften Kilometern in Nebel, Sturm, Hagel, Regen und Gefriertemperaturen. Es sollte sich als ein ausgesprochen zehrendes Abenteuer für den Körper, aber vor allem auch den Geist herausstellen, viel anstrengender als ich es mir vorgestellt hatte. Selten hatte ich einen so niedrigen Kilometerschnitt pro Tag gefahren. Nicht dass mir dies je besonders wichtig gewesen wäre. Aber dennoch fiel es mir auf. Was hatte ich aber erhalten? Eine Reise, die durch ihre mystische Einsamkeit auf dem Rad und Eindringlichkeit, vor allem im dichten Nebel, zu faszinieren wusste. Eine Reise, die mir mal wieder in Erinnerung gerufen hatte, wie wichtig es ist, auf alles vorbereitet zu sein oder spontan umdenken und Kompromisse eingehen zu können. Kompromisse schließen, dies ist ein essenzieller Punkt bei dem Profil, das meine Reisen ausmacht. Ziele haben ist wichtig. Ziele sind die Basis Deiner Reiseplanung. Ziele sind es also, die Dich überhaupt erst auf den Weg bringen und Dich letztlich glücklich machen, wenn Du sie erreichst. Aber der Weg zum Ziel verläuft nicht immer gerade oder problemlos. Hier musst Du abwägen zwischen Risiko und Gewinn. Die Eifel ist vielleicht nicht tödlich. Aber wie schnell man sich unter noch härteren Umständen Erfrierungen einfangen oder anderweitig verletzen könnte, wurde mir hier deutlich vor Augen geführt. Kaum vorstellbar, wie so etwas ausgehen kann, wenn es nicht in der Eifel, sondern im einsamen Hochgebirge geschieht. Du musst also immer klar denken, überlegen und gewichten und letztlich: Auch entscheiden und mit dem Ergebnis leben.


Rad: MARIN Alpine Trail 8 (29")
Genutzte Bereifung:
Vee Tire Flow Snap 2,6" (v + h)

Tagesstrecken (Ges. 500 km):

Tag 1: Euskirchen - Rurberg
Tag 2: Rurberg - Robertville
Tag 3: Robertville - Hillesheim
Tag 4: Hillesheim - Monreal
Tag 5: Monreal - Cochem
Tag 6: Cochem - Bettenfeld
Tag 7: Bettenfeld - Prüm
Tag 8: Prüm - Vianden

Bleibende Eindrücke:

  • Unwirtliche Wetterlage: Nebel, Eis, Hagel, Regen, Sturm.
  • Lost places im Grenzgebiet zu Belgien.
  • Das Paradies für Burgenfotografie, insbesondere am Chateau de Reinhardstein.
  • Das Bewusstsein, dass schwere Reisen nicht immer im Ausland stattfinden müssen.

Fotos: